Wortreiche Ratlosigkeit

Falk Richters Uraufführung »Verräter« am Gorki-Theater verheddert sich in Beliebigkeit

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Mareike kämpft auf der Bühne mit ihrer Wut und ihren Tränen. Die Mittzwanzigerin steht zwischen Baumstümpfen auf einem Boden aus Asche, auf der Leinwand im Hintergrund werden trostlose Bilder eines nebligen Waldes und einer Plattenbausiedlung abgespielt. »Ich hab mich immer für meine Herkunft geschämt«, schallt es mit brüchiger Stimme dem Publikum entgegen. Den empfundenen Verrat an Familie und Klasse im Sachsen-Anhalt der Nachwendejahre illustriert die von Mareike Beykirch gespielte Figur mit Detailwissen. »Indem du Worte benutzt, die sonst keiner in der Familie benutzt. Oder Bücher liest mit Titeln, die irgendwie freudlos und anstrengend klingen. Indem du beim Fernsehgucken plötzlich an anderen Stellen lachst als die anderen.« Der reflektierte Zorn über die eigene Entfremdung wie auch über deren gesellschaftliche Ursachen findet seine Auflösung in einem rotzigen Punksong: »Wer hat uns verraten? Christdemokraten!«

Die nächste Szene der Premiere von Falk Richters »Verräter« am Maxim-Gorki-Theater ist ebenso aufwühlend. Die Nacht des gescheiterten Militärputsches in der Türkei: Der schwule Deutsch-Türke Mehmet versteckt sich mit seinem Partner und anderen Verängstigen in einer Wohnung, von draußen dringen Knall- und Schreigeräusche herein. Die Leinwand zeigt die Kampfhandlungen in Istanbul und unterlegt sie mit alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Metropole. Als sein Partner seine Hand streicheln will, weicht Mehmet zurück. »Ich denke, das ist jetzt echt der falsche Moment, uns hier vor dieser Gruppe panischer Unbekannter zu outen.« Der zweite Verrat folgt am nächsten Morgen auf dem Weg zum Flughafen. Grenzpolizisten durchsuchen den Bus, Angst liegt in der Luft. »Ich habe immer versucht, alles Deutsche an mir ganz bewusst im Verborgenen zu halten und jetzt versuche ich, wie ein deutscher Tourist zu wirken, der sich verirrt hat«. Der Ausnahmezustand lässt wenig Raum für Selbstbehauptung. Mehmet, gespielt von Mehmet Ateşçi, singt melancholisch ein türkisches Lied.

Weitere Rollen werden eingeführt, darunter die lesbische Muslima Çiğdem (Çiğdem Teke), der schwule Ruhrpottpole Knut (Knut Berger) sowie die Israelin Orit (Orit Nahmias). Alle Figuren entspringen Minderheiten, die in Zeiten der wiederentdeckten globalen Freude am Autoritarismus ihre Identitäten und Hoffnungen neu verhandeln müssen. Zu den Charakteren gesellt sich als Sonderfall Daniel/Jakob (Daniel Lommatzsch), der anfangs im Rahmen eines Forschungsprojektes und eines Musicals die persönlichen Konflikte der anderen ausnutzen will und später seine Fratze als rechtsradikaler Narzisst offenbart. Theoretisch hätte Richter mit diesem Ensemble talentierter Jungdarsteller und dem brisanten Themenkomplex zwischen Klassenkampf und Kulturkampf, zwischen Verleugnung und Erforschung der eigenen Herkunftsmilieus, ein großes Potenzial für theatrale Sprengkraft und Provokation gehabt. Offensiv zitieren die Figuren wie zum Beweis, dass ihnen dies bewusst ist, aus dem Buch »Rückkehr nach Reims« des französischen Soziologen Didier Eribon.

Richter kann die Intensität und den Spannungsbogen seiner Anfangsszenen jedoch nicht aufrechterhalten. Die Dramaturgie zerfasert zügig, und die Schauspieler verbringen spätestens ab der zweiten Hälfte mehr Zeit auf selbstreflexiven Metaebenen als im eigentlichen Stück. Anstrengende Musicaleinlagen und irritierende Szenen in einem apokalyptischen Traumland tragen wenig bei, die komplexer werdende Handlung erreicht einen Zustand der wortreichen Schwammigkeit. Diese zeigt sich auch in den Gesprächen: Die Schauspieler haben offenkundig ihre eigenen Biographien in Zusammenarbeit mit Richter in den Text eingeflochten und doch weisen sie regelmäßig mit ironischer Distanz und Hinweisen auf den Schreibprozess auf die Beliebigkeit des Gesprochenen hin. In der Kombination entsteht dadurch ein Verwirrungsmosaik, das an einen Postmodernismus erinnert, der keine verbindlichen Aussagen mehr kennt. »Ich schaffe mir meine eigene Realität und meine eigene Identität«, sagt Knut in trotzigem Ton.

Kurz vor dem Ende des zweistündigen Stücks wird ein Video eingeblendet, in dem sich vier der Schauspieler in Unterwäsche auf einem Bett wälzen. Wenn es schon keine Antworten auf den schleichenden Zusammenbruch des Status quo gibt, dann soll man sich doch wenigstens eine gute Zeit machen, scheinen die Bilder zu sagen. Orit erklärt dem Publikum: »Die Idee dieses Stückes ist, dass Sprache nicht mehr an den Inhalt gebunden ist und dadurch die Freiheit entsteht, dass wir alles sagen können, was wir wollen.«

Die wirkliche Begriffs- und Sprachlosigkeit des Textes wird in diesen Worten deutlich und wirkt nach den viel gelobten »Small Town Boy« und »Fear« von Richter etwas enttäuschend. Nicht provokativ, sondern ängstlich weigert sich seine neue Aufführung, überhaupt etwas außer der Freude am Eskapismus anzuerkennen. Die Positionierungen verkommen zum Selbstzweck und die Analyse des Verrats wird aufgegeben. Ein Vorgehen, das künstlerisch legitim ist, angesichts der grassierenden Popularität der Barbarei aber ziemlich brav und letztlich nichtssagend.

Nächste Vorstellungen: 11., 13. Mai

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