Rituale der Geistlosigkeit

Theatertreffen: Das Schauspiel Dortmund gastiert mit »Die Borderline Prozession« in den Rathenau-Hallen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Jede Zeit hat ihre Modekrankheiten. Um 1900 herum litten empfindliche Menschen bevorzugt an »Nervenfieber«, heute an Burnout oder dem Borderline-Syndrom. Letzteres wird als Unfähigkeit zu einem relativ stabilen Gemütszustand beschrieben, abrupt wechseln Stimmungen, allzu vieles stürzt gleichzeitig auf jemanden ein, überwältigt ihn. Insofern wäre dies der Normalzustand in unserer reizüberfluteten Welt, so könnte man denken.

Aber schon Gottfried Benn hat davon geschrieben, in seinen Geschichten vom Arzt Rönne, der zu viel obduziert und dessen Hände plötzlich anfangen, die Pathologenbewegung des Aufklappens des Hirns wie automatisch auszuführen, während ihm seine Gedanken immer weiter davonschwimmen. Es war Benns eigenes Problem, das ihm - vor hundert Jahren - sehr wohl bereits als jenes Grenzphänomen zur Schizophrenie bewusst war, das heute als Borderline-Syndrom grassiert. Nur nannte er es selbst damals »schizothym«. Offensichtlich wurde dies, als er eine Chefarzt-Vertretung übernahm und absolut unfähig war, irgendeine Entscheidung zu treffen oder auch nur irgendwie zu handeln. Der Chefarzt musste aus dem Urlaub zurückgeholt werden - und Benn hatte Anlass genug, darüber nachzudenken, warum er nicht »normal« funktioniere. Aber er hatte als Dichter, genialer Ausdruckskünstler derartiger Übergangszustände, immerhin ein Alibi.

Und hier in den Rathenau-Hallen in Oberschöneweide, wo die »Borderline Prozession« von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin als Theatertreffen-Beitrag vom Schauspiel Dortmund gezeigt wird? Vorab hochtrabende Ankündigungen. Hier handele es sich um eine sichtbar gemachte »Dialektik des Ungleichzeitigen«, ein Ritual im Stil von Edward Hoppers Bildern, ein »Zitatengewitter« aus dem Geist der Melancholie, eine Wiederkehr der »Universalpoesie der Frühromantik«, gar eine »hegelianische Erlösungssynthese«. Wer möchte so etwas nicht gern mit eigenen Augen sehen? In der Mitte der Industriehalle sehen wir die Wohnzimmer kleiner Leute. Zehn offene Räume - von der Küche über das Bad zu Wohn- und Schlafzimmern, in denen Menschen ihre Alltagsrituale verrichten. Das Publikum sitzt auf Tribünen zu beiden Seiten - jener der Wohninnenräume und jener der Straße - und übt sich im Voyeurismus.

Eine Kamera fährt um diesen künstlichen Wohnkomplex immer im Kreis und projiziert dabei die Bilder auf riesige Bildschirme; manches sind auch vorproduzierte Einspielungen, sodass man nie weiß, was hier live ist und was aus der Konserve kommt. Dann kommt das »Zitatengewitter« zum Mitlesen auf den Bildschirmen, zumal die Paare und Passanten, die wir in ihren Wohnstuben und auf der Straße beobachten, in den ganzen hier abrollenden drei Stunden (!) kaum je etwas sagen. Dafür dröhnt ständig extrem laute Musik. Wird hier gerade das Sakrale aus dem Trivialen geboren - oder umgekehrt? Jedenfalls ist es schmerzhaft für die Ohren.

Worum geht es dabei eigentlich? Bilder, so hören wir per eingespielter Botschaft, seien immer Klischees. Soll ich hier tatsächlich sehen lernen?! Der erste der schriftlich per Video dem Publikum übermittelten Sätze lautete unheilvoll, hier sei nichts zu verstehen, aber viel zu erleben. Man hofft, dass sich bei solchen Ankündigungen bereits die ersten Zuschauer erheben und gehen, aber nein, man ist - allzu - höflich und bleibt sitzen inmitten dieser Installation. Wenn es wenigstens tatsächlich etwas - und sei es jenseits aller Gedanken - zu erleben gäbe! Aber so werden Zitate aneinandergereiht, die Kamera fährt im Kreis um die Kulisse, Musik dröhnt, pathetische Kommentare werden eingespielt, als sei man bei der Verkaufsshow einer Sekte - und man friert entsetzlich in dieser ungeheizten Halle. Die Kältestarre als Event!

Eines der vorüberflackernden Zitate hat sich mir wahrscheinlich darum eingeprägt: »Sechs Monate haben sie Winter und sechs Monate keinen Sommer. Das ganze nennen sie Vaterland.« Der Satz ist von Napoleon, der ein geistreicher Mann war - im Unterschied zu den Schöpfern dieser kunstgewerblichen Hochstapelei, die beim Theatertreffen der zehn besten deutschsprachigen Inszenierungen wahrlich nichts zu suchen hat.

Der Höhepunkt kommt wie immer zum Schluss: Jonathan Meeses Manifest vom »Lolitatum der Totalstkunst«. An Meese scheiden sich bekanntlich die Geister, die einen halten ihn für genial, die anderen für schwachsinnig. Wer will dies in postmodernen Zeiten noch unterscheiden? So hören wir brav zu, was uns kräftige junge Männer in Schuluniformen mit spitzem Kussmund zu sagen haben. Lolitas seien »totalst« antidemokratisch und außerdem verschissen. Nach einer weiteren Stunde haben wir auch das begriffen.

Um noch mal auf Gottfried Benn zurückzukommen und sein Borderline-Syndrom, diese Ahnung von der unheilbaren Spaltung des Ich, die dem des Risses in der Zeit entspricht. 1920 hält er vor Medizinstudenten seinen Vortrag »Das moderne Ich«. Darin heißt es, er wolle »Misstrauen säen in Ihre Herzen gegen Ihrer Lehrer Wort und Werk, Verachtung gegen das Geschwätz vollbärtiger Fünfziger, deren Wort der Staat lohnt und schützt, und Ekel vor einem Handwerk, das nie an eine Schöpfung glaubte«. Das wäre doch mal ein Anfang gewesen für eine »Borderline Prozession«!

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal