Dieses kurze helle Leuchten

In Senftenberg: »Sterne über Senftenberg« von Fritz Kater

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Mitte des Raumes okkupiert eine riesige Kiste. Die Zuschauer sitzen drum herum, dicht an die Wände gedrängt, wie Belagerer oder Gefangene. Der Druck, den diese bewusst verengte Senftenberger Studiobühne von Peter Schickart erzeugt, ist enorm. Fallhöhen aller Art bestimmen die Dramaturgie dieses straff in Fernsehfilmlänge inszenierten Abends.

Man kann die Kleinwelt eines imaginären Gartenhauses in unwirtlicher Gegend, als die sich die Kiste nach und nach entpuppt, auch drehen, sehr schnell sogar, aber immer nur unter Einsatz aller Körperkräfte. Sie scheint - von allen Seiten betrachtet - doch immer die gleiche. Die Wände sind aus Papier, es ist nur eine Frage der Zeit, dass es heruntergerissen wird. Ein Lattengestell tritt zutage. Ist das nun ein Akt der Befreiung oder der Zerstörung? Das bleibt wie immer in den Stücken von Fritz Kater (so der Autorenname von Armin Petras, vormals Intendant des Gorki-Theaters, jetzt in Stuttgart) unentschieden. Und da sein früherer Regieassistent aus Gorki-Theaterzeiten, Dominic Friedel, hier Regie führt, wundert es nicht, dass dieser forcierte Gestus eines Zugleich-des-sich-Ausschließenden uns auch in »Sterne über Senftenberg« entgegentritt.

Der Gestell-Rest, die Gartenhausruine, hat immer noch ein Dach, auf dem man herumklettern kann. Dem Himmel ein Stück näher, oder auch: Wie ein Stern in einer Sommernacht? Nein, keine sentimentale Sternenschau, sondern ein Stück angestrengter Bühnenarbeit über das Schicksal einer einst von schmutziger Arbeit (Tagebau!) geprägten Region.

Ein explosives Bewegungsstück, so laut und grob-zart, wie Fritz Kater in seinen Texten eben ist. Ursprünglich sollte die Premiere schon im Januar stattfinden, aber gleich zwei Schauspieler fielen verletzungsbedingt vor der Premiere aus. Das hier also verspricht härter zu werden als jedes brandenburgische Fußballderby. Vor fast 15 Jahren schrieb Kater übrigens für das Schauspiel Leipzig »Sterne über Mansfeld«. Auch dort ging es um das Ende einer proletarischen Bergbauidentität. Die Frage, was aus einem Menschen wird, wenn er nicht mehr das sein darf, was er lange Zeit war, lässt Kater auch in »Sterne über Senftenberg« nicht los. Kann er ein anderer werden, befreit vom Gestern, oder bleibt er bloß ein Amputierter, der nun mit seinem Erinnerungsleib lebt - im besten Falle ein gedächtnisloser Neureicher? Und im schlimmsten Falle?

Thomas (Robert Eder) war früher mal Rockmusiker, stand kurz vor einem Plattenvertrag mit Amiga, so heißt es. Jetzt verkauft er gebrauchte Autos und Versicherungen an jene, die mal seine Freunde waren - und nun lieber einen Bogen um ihn machen. Er ist schwer verschuldet, aber hat immer noch Träume - eine Go-Kart-Bahn ist der neueste -, wenn auch längst keine hochfliegenden mehr, sondern solche, die das finanzielle Desaster gebiert. Thomas geht mit seiner Gitarre herum wie ein Gespenst. Seine Gitarrenriffs, die den Abend mit ihren erst drohend auffahrenden, dann wieder melancholisch absinkenden Tönen immer wieder zerreißen, erinnern an jenen langen Gang ins Nichts, den Jim Jarmusch in seinem Film »Dead Man« mit Johnny Depp grandios - und in todesnahen Schwarz-Weiß-Bildern - in Szene setzte.

Eine Handlung im konventionellen Sinne gibt es in »Sterne über Senftenberg« nicht, eher einen Reigen von Stimmen, kurze biographische Schlaglichter, die Fragen stellen, ohne sie zu beantworten. Diesem im Text angelegten stoischen Gestus jedoch will Friedel - trotz klagender Gitarre - offenbar nicht folgen. Seine Gespenster von gestern ringen um Zukunft, sie kämpfen, täuschen zumindest ab und zu vor, aus dem Vollen zu schöpfen. Obwohl Benjamin (Sybille Böversen), der einstige Parteiarbeiter, den im friedlichen Wendeherbst versehentlich eine Kugel aus der Pistole eines Mitgenossen traf und der seitdem im Rollstuhl sitzt, immer nur abschüssige Bahnen vor sich sieht. Auch Christian (auf eindringliche Weise eckig: Roland Kurzweg), der Ex-Volkspolizist, steht immer noch nicht auf der Gewinnerseite. Liegt das am Osten, dem die Siegermentalität fehlt? Frauen sind hier geheime Hoffnungsträgerinnen, biegen sich unter den Lasten, aber zerbrechen nicht (mit wehrhaftem Impetus: Eva Geiler, Marianne Helene Jordan und Katrin Flüs).

Der verlassene Senftenberger Tagebau läuft voll mit schwarzem Wasser, seine lukrative Zukunft als Badesee ist schon mit Händen zu greifen, doch noch lebt hier nichts, aber man kann ja nicht wissen, was die Zukunft an Getier noch bringt. Die Immobilienpreise (Seeblick!) explodieren bereits. Ist man auf dem Weg, ein zweites Starnberg zu werden, wenn sich bloß endlich die richtigen - also notorisch optimistischen - Erfolgsmenschen ansiedeln?

Petras/Kater mit seiner Ost-West-Biografie wäre der Letzte, der mit seinen Stücken, darunter »Heaven (zu tristan)« oder »We Are Blood«, je schlichte sozialpolitische, moralische oder gar ideologische Botschaften im Sinn gehabt hätte. Ihm geht es immer um den sensitiven Stoff, aus dem wir gemacht sind und die Spuren einer wie auch immer gearteten Vergangenheit, die wir mit uns tragen. Immerhin, der gefragte Theatermann schreibt dem kleinen vormaligen Theater der Bergarbeiter ein Stück auf den Leib, auf dass es nicht vergisst, wo es herkommt.

Die Poesie der Schwere erleuchtet dabei von innen her auf surreale Weise die Worte. Das ist es, was Petras/Kater dem Dichter Wolfgang Hilbig, diesem wortscheuen Heizer, der immer alle Klischees vom schreibenden Arbeiter zerbrach, folgen lässt. Er ist ein genau solcher Wortalchemist, der mit Hilbig die Briketts in den Ofen schaufelt, bis sich in den Rauchgasen Traum und Realität vermischen und eine gasige Flamme irrlichtert. Das ist auch die Atmosphäre von »Sterne über Senftenberg«.

Oder eher, sie könnte es sein, wenn der junge Regisseur Dominic Friedel dem hochenergievollen Spiel seiner Schauspieler die gelegentlich störende Eindeutigkeit nehmen würde. Was bei Petras/Kater Zwischentöne sind, es tönt hier mitunter allzu sehr, etwa wenn Sebastian Volk als Pastor, der »nicht von hier« ist, wie ein entfesselter Agitator Gottes Hoffnungs-Einrede betreibt. Aber er ist hier doch auch in der Diaspora, was ein anderes Wort für Exil, für ausweglose Einsamkeit ist. Etwas mehr gezügelte Emphase, Mut zur Lakonie, könnte da Wunder bewirken.

Senftenberg ist überall? Wenn man es richtig - als postindustrielle Brache - versteht, in der Melancholie und Frivolität gleichermaßen wachsen, dann gewiss. Jedoch beliebig ist die Ortszuschreibung keineswegs, dazu kennt Petras/Kater das unglückliche Ost/West-Bewusstsein viel zu gut aus eigener Erfahrung (gerade hat er seinen lukrativen Intendantenvertrag in Stuttgart nicht verlängert). Übergang kann ein langwierig zäher und ungewisser Prozess sein, eine Krise, die nicht jeder überwindet.

Diese Eigenart von Geschichte macht auch Friedel in seiner Inszenierung deutlich, mitunter überdeutlich, etwa mittels massenhaft frischem Porree, der im Gartenhausgestell ausführlich klein gehackt wird, um dann als Geruch penetrant in der Luft der Studiobühne zu liegen. Man will flüchten und muss doch ausharren.

Dabei gibt es immer Hoffnung, wenn man sie denn mitten im Vergeblichen sucht. Das wird klar, als Harald Müller, Verlagschef von »Theater der Zeit«, wo die Stücke von Fritz Kater erscheinen, im Anschluss ein Publikumsgespräch mit dem Autor führt. Müller hat auch sein Sternenbeispiel parat: Alexander Mittas Mosfilm »Leuchte mein Stern leuchte«, worin die Ein-Mann-Theatertruppe von Iskremas (»Die Kunst-der-Revolution-den-Massen-der-Revolution«) in Gestalt des großen Oleg Tabakow durchs nachrevolutionäre Bürgerkriegs-Russland zieht und am Ende erschossen wird.

Der unsterbliche Enthusiasmus des Einzelnen, der sich freiwillig zum Narren macht, sein Griff zu den Sternen, als Glaube an die - nicht weltumstürzende, aber lebensverändernde - Macht der Kunst, das bleibt. Und sei es als Sternschnuppe, die kurz, aber hell aufleuchtet, bevor sie zu Boden fällt.

Nächste Vorstellungen: 22. und 23. Mai

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