Orwell schützt vor Terror nicht

Großbritannien verwandelte sich in den letzten Jahrzehnten in einen Überwachungsstaat - trotzdem kommt es immer wieder zu Anschlägen

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Jahre 1948 veröffentlichte der britische Autor George Orwell seine Dystopie »1984«, die in einem zukünftigen Überwachungsstaat spielt, der seine Bürger ausspioniert und manipuliert. Seitdem bemüht man Analogien zu diesem Buch immer wieder, wenn es um Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger geht. Dass sich ausgerechnet das Geburtsland Orwells in einen Überwachungsstaat verwandelt hat, entbehrt dabei nicht einer gewissen, wenn auch traurigen Ironie.

Niemand weiß genau, wie viele Überwachungskameras es in Großbritannien gibt. Schätzungen bewegen sich irgendwo zwischen drei und sechs Millionen. Ein Londoner Bürger wird pro Tag im Schnitt von rund 300 Kameras erfasst. Selbst wer im Pub sein Bier trinkt, muss sich dabei filmen lassen. Behörden vergeben Kneipenlizenzen meist nur, wenn Wirte Überwachungstechnik installieren. England und Wales haben mit dem Ex-Polizisten Tony Porter sogar einen »Surveillance Camera Commissioner«, also einen Beauftragten für Überwachungskameras.

Das hindert Ladeninhaber und große Bekleidungsketten nicht daran, ihre Überwachungskameras mit Gesichtserkennungssoftware zu koppeln. Fast 60 Prozent aller Modehändler im Vereinigten Königreichen setzten die Software im letzten Jahr ein, wie der »Guardian« enthüllte. Dabei nutzten die Händler die so gewonnen Informationen nicht nur, um Ladendiebe zu erkennen, sondern auch, um rauszukriegen, welche Auslagen auf die Kunden besser wirkten. Natürlich nutzt auch die Polizei Programme wie NeoFace, um ihr Videomaterial zu analysieren.

Doch nicht nur im öffentlichen Raum müssen sich Bürger beobachten lassen. Die britischen Geheimdienste haben auch Zugriff auf die Kommunikationsdaten im Netz. Der 2014 vom Parlament als Notstandsgesetz verabschiedete Data Retention and Investigatory Powers Act, kurz DRIP, stellt die Schnüffelei auf eine rechtliche Grundlage. Seitdem können die Dienste ohne großen Aufwand ermitteln, »wer sich wann wo wie lange und mit wem in Verbindung gesetzt hat, sei es über Telefon, E-Mail, Facebook-Nachricht oder andere moderne Kommunikationsformen«, wie der österreichische »Standard« berichtet.

Die britische Regierung sammelt zudem massenhaft die DNA-Daten ihrer Bürger. Die National Criminal Intelligence DNA Database ist mit mehr als sieben Millionen Einträgen, darunter 1,3 Millionen Minderjährige, die größte forensische Datenbank der Welt.

Selbst der sonst um Zurückhaltung bemühte linksliberale »Standard« kommt zu einem ernüchterndem Fazit: »Großbritannien als Überwachungsstaat zu bezeichnen, ist keine Übertreibung: Heute werden die Bürger so intensiv und in so viel unterschiedlichen Weisen überwacht, wie es in keinem anderen Land in Europa möglich wäre.«

Tatsächlich umfasst das Überwachungsportfolio der britischen Behörden weitere Maßnahmen. So werden landesweit die Nummernschilder aller Fahrzeuge erfasst und mit den entsprechenden Datenbanken abgeglichen. Das Automatic-Number-Plate-Recognition-System (ANPR) prüft zwischen 25 und 30 Million Nummernschilder pro Tag. Dabei sucht die Polizei keinesfalls nur nach gestohlen Fahrzeugen, sondern auch nach PKW ohne gültige Versicherung. Die rund 8000 fest installierten ANPR-Kameras befinden sich an allen größeren Straßen des Landes und speichern die Informationen bis zu zwei Jahre. Hinzu kommen Kameras an Einsatzfahrzeugen der Polizei. Dabei macht das System keinen Unterschied zwischen Kriminellen, Terroristen und unbescholtenen Bürgern. So informiert die britische Polizei auf ihrer Webseite darüber, dass die Kameras sämtliche PKW, Busse und Trucks erfassen, die an ihnen vorbeifahren. »Das gilt auch für Fahrzeuge, die im Moment der Aufnahme nicht von Interesse sind.« Dass diese Daten ebenfalls gespeichert werden, versteht sich im Lande Orwells von selbst.

Diese umfassende Überwachung aller Verkehrsteilnehmer hinderte den Attentäter Khalid Masood im März 2017 aber nicht daran, mit seinem geliehenen Hyundai auf der Londoner Westminister-Brücke Menschen umzufahren.

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