Immunreaktion in Sekunden

Rezeptoren für Bitterstoffe finden sich nicht nur im Verdauungssystem, sondern auch in Lunge und Gehirn

  • Angelika Lensen
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir essen vor allem Nahrung mit süßen und salzigen Geschmacksrichtungen und selten bittere Lebensmittel. Nur wenige Menschen mögen von Natur aus gerne Bitteres. Salz war in früheren Zeiten als Konservierungsmittel so wertvoll, dass es sogar als Zahlungsmittel eingesetzt wurde. Unsere besondere Vorliebe für Süßes ist nicht zuletzt auch durch den Geschmack der Muttermilch begründet. So lernen wir Süßes schätzen, und der süße Geschmack signalisiert uns eine wertvolle Energiequelle. Süß und - in geringerem Umfang - auch salzig waren Geschmacksrichtungen, die eine essbare und sichere Nahrungsquelle anzeigten.

Bei bitteren Aromen ist das weniger deutlich. Manche bitteren Pflanzen können immerhin tödlich sein, wenn man sie isst. Gifte wie Strychnin und Nikotin sind ziemlich bitter und lösen eher eine Abwehrreaktion wie Husten oder Spucken aus. Andere bittere Aromen aktivieren unser Immunsystem und schützen uns vor Infektionen.

Bitterer Geschmack aktiviert die Zilien, antennenartige Flimmerhärchen auf fast allen menschlichen Zellen sowie in den Atemwegen. Die Bitterstoffe lassen die Zilien schneller arbeiten, sodass Gifte und andere unerwünschte Substanzen aus der Mundhöhle entfernt und nicht verschluckt werden. Nicht jeder reagiert aber gleich gut auf Bitterstoffe, und die Reaktion auf bakterielle Angriffe kann dann auch träge verlaufen.

Besondere Feinschmecker, die in der Wissenschaft auch »Supertaster« genannt werden, besitzen sehr reaktionsfähige Bitter-Rezeptoren und stellen mit ihren feinen Geschmacksnerven eher die Ausnahme als die Regel dar. Dafür werden sie seltener krank als diejenigen, die bitter weniger gut schmecken können. Die Fähigkeit der Bitter-Rezeptoren, eine Immunreaktion auszulösen, ist so stark, dass viele Forscher glauben, Antibiotika eines Tages durch bittere Medikamente ersetzen zu können.

Sobald die Zilien in den Atemwegen durch den immunstärkenden bitteren Geschmack aktiviert werden, regen Zellen in der Nase die Freisetzung von Stickstoffmonoxid an und töten so eingedrungene Bakterien. Ein bitterer Geschmack kann innerhalb einiger Minuten oder sogar Sekunden nach dem Kontakt eine Immunreaktion auslösen, während die normale Abwehrreaktion schon mal Tage oder Wochen dauert.

Es gibt auch Bitter-Rezeptoren, die an die Süß-Rezeptoren gekoppelt sind. Kommen unerwünschte Bakterien mit diesen Rezeptoren in Kontakt, werden sogenannte Defensine angeregt, die die Krankheitserreger töten. Die Süß-Rezeptoren wittern den Untergang der Bakterien und beginnen Glukose abzusondern: Es entsteht ein süßer Geschmack. Die Süße überbringt die Botschaft »Alles in Ordnung« und signalisiert, dass die zuckerfressenden Bakterien keine Gefahr mehr darstellen.

Menschen, die zu viel Glukose ausscheiden, reagieren weniger auf Bitteres und werden häufiger krank. Das bedeutet, dass wir nicht versäumen sollten, unsere Bitter-Rezeptoren zu trainieren und die Süß-Rezeptoren auf Sparflamme zu setzen. Die Bitter-Rezeptoren sind weitaus wichtiger als bisher angenommen, denn sie befinden sich auch im Verdauungstrakt, in den Lungen, der Bauchspeicheldrüse und im Gehirn.

Unter anderem die chinesische Heilkunde strebt ein Gleichgewicht der fünf Geschmacksrichtungen bitter, würzig, süß, sauer, salzig an. Ein Übermaß einer dieser Komponenten bringt demnach die Stimmung, die Immunabwehr und die ganze Gesundheit durcheinander. Die Wissenschaft unterstützt diese Theorie allerdings nicht.

»Bitter im Mund, macht das Herz gesund.« Auch in diesem Sprichwort steckt durchaus ein Körnchen Wahrheit. Doch was bringt es, wenn wir die Sucht nach Salz und Zucker durchbrechen und uns bewusst für Bitteres und Herbes entscheiden? Die Wissenschaft ist insofern deutlich, dass eine überflüssige Aktivierung der Süß-Rezeptoren zu einem geschwächten Immunsystem führt und dass diejenigen, die empfindlicher auf Bitterstoffe reagieren, eine bessere Immunreaktion haben.

Einer der typischen Bitterstoff-Träger ist Chicorée. Das Gemüse gehört - wie Endivie und Radicchio - zur Familie der Korbblütler und ist verwandt mit Löwenzahn, Wermut, Artischocke und Mariendistel. Chicorée enthält den löslichen Ballaststoff Inulin, viele sekundäre Pflanzenstoffe wie Terpene und Flavonoide sowie Vitamine. Das Gemüse wirkt antibakteriell, etwa gegen den Krankenhauskeim Staphylococcus aureus, und hat weitere Vorteile. Entzündungshemmend und leberstärkend reduziert es Verdauungsstörungen im Oberbauch wie Übelkeit, Blähungen und Krämpfe. Chicorée ist purinarm, was günstig bei Gicht ist. Zudem fördert das bittere Gemüse die Produktion eines Darmhormons, das auch zur Behandlung von Diabetes eingesetzt wird. Die positiven Wirkungen gelten für alle Gemüse der Chicorée-Familie.

Kohlenhydrate, denen Bitteraromen zugefügt werden - zum Beispiel Brot mit etwas Bitterem - sollen den Stoffwechsel weniger belasten. Gerry Potter, ein Wissenschaftler der Universität Montford in Leicester entdeckte die Salvestrole (Bitterstoffe). Sie gehören zu den Polyphenolen und sollen etwa in Krebszellen nur aktiv werden, wenn sie mit dem Enzym CYP1B1 in Kontakt kommen. Resveratrol war das erste Salvestrol, das entdeckt wurde, und inzwischen wird über diese Substanz aus Trauben regelmäßig berichtet, vorwiegend als Nahrungsergänzungsmittel. Die häufig behauptete positive Wirkung gegen Krebs ist allerdings umstritten.

Salvestrole finden sich nicht nur in den typisch bitteren Obst- und Gemüsesorten. Nach Potter enthalten auch alle grünen Gemüse, besonders Brokkoli, alle Kohlsorten, Artischocken, rote und gelbe Paprika, Avocados, Spargel und Auberginen diese Polyphenole. Zu den salvestrolhaltigen Kräutern zählen Petersilie, Salbei, Rosmarin, Thymian, Basilikum, Löwenzahn, Mariendistel, Rooibos und Zitronenverbene, Wegerich, Kamille und Minze. Bitterstoffe sind außerdem in allen roten Früchten, Äpfeln und Birnen enthalten.

Die Nahrungsmittelindustrie ist in den vergangenen Jahrzehnten dazu übergegangen, Bitterstoffe aus Gemüsen herauszuzüchten, damit diese vom Verbraucher besser angenommen werden. Rosenkohl, Endivie und Chicorée enthalten heute deutlich weniger Bitterstoffe als früher. Leider entgehen uns dadurch auch positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Bitterstoffe senken die Lust auf Süßes, sorgen für eine gute Verdauung und beugen sogar Sodbrennen vor. Wer sich etwas Gutes tun möchte, kann nach dem Essen auch zu einem Kräuter- oder Magenbitter greifen statt zu säurehemmenden Medikamenten. Der Alkoholgehalt sollte dabei jedoch nicht unterschätzt werden.

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