Mehr Experimente wagen

Steffen Twardowski über den aktuellen Bundestagswahlkampf und Möglichkeiten für einen politischen Wechsel

  • Steffen Twardowski
  • Lesedauer: 4 Min.

Selbstverständlich ist die Bundestagswahl noch nicht entschieden. Viele Menschen fangen jetzt erst an, darüber nachzudenken, welcher Partei sie im September ihre Stimme geben. Andere überlegen, ob sie überhaupt wählen - und da spielt eine große Rolle, was sie von den Parteien oder allgemein Politikerinnen und Politikern erwarten. Haben Sie Lust auf ein kleines Experiment? Sie lesen jetzt drei Antworten auf die Frage nach den zurzeit wichtigsten Themen und Ereignissen, eingesammelt bei einer Umfrage vorvergangene Woche. Bitte finden Sie heraus, wie die Befragten wählen würden.

1. »Ich wünsche mir ein wirtschaftliches Umdenken. Öffentlicher Nahverkehr und alternative Arbeitsplätze sollten gefördert werden, besonders in Bezug auf die Digitalisierung. Die Flüchtlingsproblematik sollte überdacht werden, Fluchtursachen müssen bekämpft werden. Deutschland ist als Rüstungsexporteur nicht friedensfördernd. Es sollte in friedensfördernde Maßnahmen investiert werden.« (56-jährige Frau aus Berlin)

Steffen Twardowski

Steffen Twardowski analysiert in der Linksfraktion im Bundestag die Politikwahrnehmung der Bevölkerung.

2. »Dass sie das mit der Türkei in Ordnung bringen, dass sie die Rentner nicht vergessen. Die Flüchtlingsfrage, dass sie da mehr Ordnung reinbringen. Durch den Terror ist man vorsichtiger geworden. Dass die Kinder mehr Bildung erhalten.« (68-jähriger Mann aus Sachsen)

3. »Bezahlbarer Wohnraum, innere Sicherheit, Klimaschutz, Stabilisierung der EU, Rückkehr zur stärkeren Regulierung der Kapitalmärkte, Zuwanderungsgesetzgebung.« (37-jährige Frau aus Baden-Württemberg)

Hier kommt die Auflösung: Die Berlinerin würde die Linkspartei wählen, der Sachse die SPD und die Baden-Württembergerin die Grünen. Sie haben ganz konkrete Alltagsprobleme zu bewältigen, machen sich Gedanken um ihre persönliche Situation und bis hin zur Lage im Land, in Europa und der Welt. Die anderen tausend Interviewten antworten ähnlich. Ein Viertel beschäftigt sich mit Terror und Extremismus und fragt, wie es um die innere Sicherheit steht. Viele sind beunruhigt wegen der Art und Weise, wie Donald Trump in den USA regiert. Sie sorgen sich beispielsweise wegen seines Ausstiegs aus dem Abkommen von Paris um den Klimaschutz. Innenpolitisch stehen die Themen Rente, Bildung und soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt.

In keiner einzigen Antwort wird darüber gesprochen, welche Partei mit welcher Partei regieren soll oder nicht. Weshalb ich das erwähne? Weil die Diskussion darüber teilweise in den Medien und den Parteien so intensiv geführt wird, dass die tatsächlichen Erwartungen der Bevölkerung aus dem Blickfeld zu verschwinden drohen. Vor allem nützt sie gegenwärtig so nur den Unionsparteien. Das lässt sich mit Zahlen belegen: Auf die Frage, ob es jetzt Zeit für einen politischen Wechsel sei, antworteten im Juni 2016 immerhin 47 Prozent mit »ja«, im Oktober 2016 waren es 50 Prozent, im März 2017 schon 54 Prozent. Da baute sich langsam eine Hoffnung in Richtung Wechsel auf. Die Sozialdemokraten hatten mit ihrer Forderung nach mehr Gerechtigkeit diesen Wunsch verstärkt. Doch mögliche Partner dafür schloss sie dann aus. Vorvorige Woche stimmten nur noch 44 Prozent zu.

Selbstverständlich ist die Bundestagswahl noch nicht entschieden, denn jeder Wahlkampf verläuft anders. Auch wenn - wie vor vier Jahren Anfang Juni - zwischen CDU/CSU und SPD etwa 15 Prozent liegen und sich das bis zum Wahltag kaum änderte. Auch wenn genau im Juni 2013 die Zustimmung bei der Wechselfrage auf 43 Prozent sank und nicht mehr anstieg. Die Dynamik lag damals bei den anderen Parteien. Die FDP kam aus der Regierung mit der CDU/CSU, pendelte bereits im Juni um die fünf Prozent und schaffte den Wiedereinzug in den Bundestag nicht. Die LINKE legte zum Wahltag hin zu, die Grünen verloren deutlich auf der Zielgeraden.

Wenn Parteien einen politischen Wechsel wollen, sollten sie in den nächsten Wochen die Gemeinsamkeiten ihrer Politikkonzepte betonen. Ihre Wählerinnen und Wähler teilen bei allen Unterschieden oft bestimmte Erwartungen an die künftige Politik. So werden ihre Antworten auf die politischen Herausforderungen interessanter und der Vergleich von Wahlprogrammen lohnt. Ereignisse, die von Deutschland aus kaum beeinflusst werden können, verlieren weiter an Bedeutung und die kommende Bundestagswahl wird mehr zu einem Thema.

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