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Gott ist ein inneres Texas

Den Philosophen Peter Sloterdijk treibt tendenzlose Neugier auf Widersprüche

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Phantasie bewahrt uns vorm Absturz in Parolen, die sich schon für Erkenntnis halten - es lebe das Bewusstsein, das mehr begehrt, als ihm die Realität zu geben vermag! Das ist Freiheit. Freiheit hat Peter Sloterdijk immer schon als »Verfügbarkeit für das Unwahrscheinliche« bezeichnet. Philosophie sei »ein Verfahren, um die Meinungsbesitzer ihren mitgebrachten Vorstellungen zu entfremden«. Das ist genau das, was gesinnungspolitisch geschultes Denken nicht kann.

Sloterdijk schließt in vielen Büchern an sein Bild vom Menschen als einem »Übenden« an. Der trotz seines Schicksals, lebenslang Verlustanzeigen aufgeben zu müssen, nicht bereit ist, sich freiwillig von Lustprogrammen und Daseinsleidenschaft zu entbinden. Eine »kindliche Furcht vor Langeweile« lässt ihn im Profanen das Geheimnis, im Offenliegenden das Dunkle, im Übersichtlichen das Labyrinthische entdecken. Federnd begibt er sich ins Überspannte. Auf Gemeinplätzen tanzt er aus der Reihe. Auf eingefahrenen ideologischen Gleisen legt er die Weichen in scheinbar untersagte Richtungen. Das ist Neugier schlechthin, also: tendenzlose Neugier. Die halte einer erst mal durch - in Zeiten, da das Elendswort von der Haltelinie Parteikarriere machen darf. Marx, so Sloterdijk, »hat gesagt, es komme nicht darauf an, die realen Widersprüche aufzulösen, sondern darauf, ihnen eine Form zu geben, in der sie sich bewegen können«. Und so wurde er zum Fabulierenden, der sich fragt, was er »für den Menschen in der Beklemmung« tun kann. Beklemmung ist unsere Existenzform: »Den ursprünglichen Horizont kann man nicht erweitern.«

Der 1937 Geborene wandert durch Raum und Zeit, seine Literatur ist eine Odyssee durch die Wirren der Menschenkämpfe. Alles scheint ihm an einen Punkt gekommen zu sein, da wir das gesellschaftlich Alternative kaum mehr, aber das Schlimmste fast ständig erwarten. Demokratie? »Cäsarismus mit Komparsen«. Aus Berufsprotestierern, Freizeitanarchisten, Stimmungsethikern, Altersegoisten, Wohlstandsverwahrlosten haben sich zwei Lager gebildet: Die einen halten die Übel der geschichtlichen Entwicklung für heilbar, die anderen leugnen, dass es diese Übel gibt.

In Erinnerung an den geschichtlichen »Maximalstress« des 20. Jahrhunderts und dessen verhängnisvolle Tendenz zu »geschlossenen Überlebenseinheiten« misstraut Sloterdijk jener verhängnisvollen »extremistischen Vernunft«, in deren Logik »der Revolutionär der gute Verbrecher« ist. Im 21. Jahrhundert nun herrscht (ja, herrscht!) Globalisierung - die freilich ebenfalls zum »furchterregenden Lehrgang« wurde, weil »die Reichtümer und die Infektionen miteinander reisen«. In seinem soeben erschienenen Buch »Nach Gott« sinniert er über die allgemeine westliche »Amerikanisierung sogar des Religiösen - die Verbindung aus Ölsuchermentalität und Erfolgsfrömmigkeit. Gott ist ein inneres Texas.«

Der großenteils von geschichtsmissionarischen Lasten befreite moderne Mensch hat für sein Leben also die Erleichterung durch Sattheit gewählt - und damit neue schwere Belastungen etabliert: etwa einen »energetischen Faschismus« der Ressourcen-Ausrottung und die Versklavung der Tiere. Daher beschwört der Karlsruher Professor die Einsicht, dass sich »gemeinsame Lebensinteressen höchster Stufe künftig nur in einem Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen lassen«. Eine »Zivilisierung der Glücksuche« müsse angestrebt werden; alles Wünschen, das einem zustehe, sei im Mäßigungszeitalter neu zu lernen. Geltungswille im politischen Kampf sei stets mit Selbstrelativierung zu verbinden.

In der Epoche der Nationalstaatlichkeit, so Sloterdijk zum Beispiel, hätten Menschen ihre Welt »als einen starkwandigen Behälter« erlebt. Wenn sie nun aufgefordert würden, gleichsam »über Nacht die behältersprengenden Asylsuchenden als folgerichtigen Teil der Globalisierung zu begreifen, dann ist wohl zunächst einmal ein gewisses Zögern zu respektieren«. Eine »Umbeseelung« von Bevölkerungen, die im Kapitalismus in allen Ambivalenzen des Egoismus leben müssen und dürfen, sei ein langwieriger Prozess.

Wer schon dies als Beihilfe zu aktiver Fremdenfeindlichkeit betrachtet, versagt sich den Erlebnisweg »von der Position zur Überlegenheit über Positionen«. Überlegen ist der, dem das Fragen nicht ausgeht und der sich aufrichtig den Verunsicherungen stellt, die noch der bestgemeinten Alternative anhaften. Es ist der linkeste aller Widersprüche: Man ist auf edle, kämpferische Weise zu stolz für eine miese Wirklichkeit, die das Volk verdirbt, aber damit leider auch zu stolz für die Wahrheit. Das Volk nämlich bleibt auch den Belehrungen zu seinen Gunsten störrisch fern.

Sloterdijks »Kritik der zynischen Vernunft« (1983) wurde zum meistverkauften Philosophiebuch des 20. Jahrhunderts. »Sphären«, »Du musst dein Leben ändern«: sprachschäumende Bücher eines Gourmets. Er genießt Fettnäpfe, hat die Tür der Frankfurter Schule zugeknallt, schuf mit »Zorn und Zeit« ein flammendes Porträt der Empörung, der politischen Macht des Furors, dem stärksten wie zerstörerischsten Motor der Geschichte. An den Regierenden stellt er eine »eingehauste Dumpfheit« fest, aber immerhin: Im Stuttgarter Wutbürger (»Stuttgart 21«) sah er den Citoyen, »der empörungsfähig blieb, weil er trotz aller Versuche, ihn zum Libido-Bündel abzurichten, seinen Sinn für Selbstbehauptung bewahrt hat, und der diese Qualitäten manifestiert, indem er seine Dissidenz auf öffentliche Plätze trägt«.

Fast wäre Sloterdijk, vor Jahren, in Indien geblieben. Die Angriffe auf ihn, als er seinen Vortrag zum »Menschenpark« gehalten, also »ironisch besorgte und fast melancholische Gedanken zur Gentechnologie« geäußert hatte, und die Attacken wegen seiner »vermeintlich antiamerikanischen Ansichten« nach dem 11. September 2001 hätten ihn aus der Meditation zurückgeholt in eine »politische Autorschaft« in Europa. Er sprach von einer US-Politik, die nach dem New Yorker Grauensakt »furchtpolitisch misshandelte« Bevölkerungen schuf - denen fortan militärische, geheimdienstliche Gerechtigkeitsaktionen eingeredet wurden, wo doch in Wahrheit grassierender »Staatsterrorismus« stattfand. »Diese September-Krieger, diese Drohnen, die als unbemannte Hohlschädel ihre Überwachungsflüge über dem freien Denkraum ausführen, sie sind noch immer im Einsatz und lassen von ihrer wutgetriebenen Vergiftungsarbeit nicht ab.«

An diesem Montag wird Peter Sloterdijk siebzig. Er praktiziert Sprache in hoch konzentrierter Dosis. Äußerste Verdichtung, radikale Metaphorik. Für die einen ist er ein Verbalnarziss, für andere einer, der mit dem Elan eines D’Artagnan das Begriffsrapier zückt. Wie auch immer: Gegen das tote Deutsch in den Selbstgenügsamkeiten des akademischen Feinsinns und gegen die leer rotierenden Argumentmaschinen der Gesinnungspatrouillen ist dieser Philosoph ein Labsal. Der sich wortakrobatisch hochbürstet in luftdünnste Ebenen, befähigt mit dem kühlen Charme des Skandaleurs.

Ja, Skandal!, schrie des Öfteren das blasse Wächteramt der Korrektheit, sperrte den Philosophen zum Pop und hatte am Ende jeder Schnappatmung wieder nur sich selber zum Schweigen gebracht. Denn Sloterdijk lässt sich nicht auf tagespolitische Agenden herunterkommentieren. Womit ein Grundproblem angesprochen ist: Grundsätzlich kann Politik (und deren ärmliche, Parteien deutende Kommentatorenschaft!) keine ideellen Ebenen mehr besetzen, schon gar keine metaphysischen. Der US-amerikanische Romanist Hans Ulrich Gumbrecht macht drei Aspekte aus, die Sloterdijk programmatisch verweigert: »den Idealismus, den Moralismus (oder die Anmaßung, eigene Positionen als normativ zu setzen) und das Ressentiment (die Aufhebung von Großzügigkeit und Gelassenheit)«. Im Notizbuch »Zeilen und Tage« wunderbare Sätze! »Das eigene Gehirn ist wie das Zentralkomitee einer Partei, die zu lange an der Macht war.« Oder: »Theologen heute: Fachidioten für Erlösung.« Oder: »Man hätte eine Sonne werden sollen und ist ein Sparbuch geworden.« Oder: »Großmutter und Enkel: nicht die tiefste, aber die schönste, die humanste Beziehung auf Erden.« Oder: »Er ist ein glücklicher Mensch? Das ändert nichts daran, dass er ein Reservist der Verzweiflung bleibt.«

Nun muss man sich nur noch die Fotos mit dem aufreizend müden, strotzend gleichmütigen Halbaugenblick über die Brillenränder vor Augen führen. Bei einer Vorlesung des aufreizendsten und einzig erzählerischen deutschen Philosophen in Paris fragten Studenten den Strähnblonden, seit wann eigentlich sein Frisör im Gefängnis sei. Peter Sloterdijk antwortete: »Seit 1968. Sieht man das nicht?«

Peter Sloterdijk: Nach Gott. Suhrkamp, 364 S., geb., 28 €.

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