Fortschritt oder Fortschrott?

Brechts »Leben des Galilei« am Schauspiel Essen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Konstanze Lauterbach ist eine Malerin des Theaters. Eine Malerin, die vielleicht von Bildern träumt, die tanzen können. Was immer diese Regisseurin entwirft, es ist sofort an ihren malerischen Schönheitssinn verloren. Oder gewonnen. Schläft ein Lied in allen Dingen? Dann schlafen weitere Geschichten in jeder Geschichte. Dem Märchenhaften, dem Spielerischen und eben dem Tänzerischen sind indessen auch dort keine Grenzen gesetzt, wo im Vordergrund eine Grausamkeit wütet.

Die wütet hier durchaus - mit dem Wort Gott auf den herrschaftlichen Lippen. Man beschwört eine letzte Instanz, um wesentliche Fragen abzuwürgen. Autoritätsanrufung, als sei’s ein Argument. Das Theater erzählt, dass man letztlich aber lieber mit Gott reden sollte, weniger mit Menschen: Denn Gott rächt sich nicht. Galileo Galilei ist am Ende einer, an dem sich wahrlich gerächt wurde. Das herrschende System ist es, das sich an ihm rächt, aber sein fehlender Charakter rächt sich auch an ihm. Er widerrief, was er als wahr erkannt hatte. Beginnt Charakter erst dann, wenn man ihn - für die Wahrheit - in Lebensgefahr bringen muss?

Bertolt Brechts »Leben des Galilei« verteidigt die wissenschaftlich begründete Erkenntnis gegen die Dogmen einer verstockten Macht: kopernikanisches gegen aristotelisches Weltbild. Physik gegen Klerus. Galilei, der Präzedenzfall für den ewigen Krieg zwischen Aufrichtigkeit und List, Widerstand und Anpassung, ja: Ehrlichkeit und Parteilichkeit. Galileis Geschichte und die Geschichte überhaupt: Immer gibt es eine Tatsache, die nicht sein darf. Immer ist ein Kaiser nackt, und alle Ketzer werden im Kind geboren. Bevor es dann erzogen wird.

Konstanze Lauterbach hat Brechts Stück am Grillo-Theater Essen inszeniert (Bühne: Ann Heine). Die Aufführung schwingt dem Publikum einen großen schwarzen, dampfenden Weihrauchkessel entgegen. Auf einer ansteigenden, in sich gebogenen Fläche lässt sie Leute steigen, rutschen, schleichen, huschen, tanzen: Aller Grund ist Schwanken, und auf scheinbaren Fundamenten nimmt die Unsicherheit Fahrt auf. Ein schwarzer Gardinenvorhang muss für die Illusion herhalten, man könne sich aus der Welt wickeln. Diese Welt ist barfuß, trägt Krawatte zum nackten Oberkörper oder hat Hemden ohne Ärmel, und für den klerikalen Aufputz reicht die dunkelmannsfinstere Kapuze oder der spreizige Überwurf des höfischen Rocks. Das Leben als Versatzstück im Fundus der Stände (Kostüme: Claudia Burchard). Das Volk schlägt wutbürgerjauchzend auf eine Kardinals-Puppe ein. Galileis Verhör vor der Inquisition färbt die Grundfläche feuerrot.

Das Ensemble offenbart in graziöser wie derber Lust am Gaukeln - zum Teil in schnellem Rollenwechsel - den beständig wachen Symbolistencharme der Regie. Wird Galilei widerrufen oder nicht? Das Volk kauert sich bang zusammen und bricht beim Glockenschlag, der den Verrat verkündet, in einen vielgrimassigen stummen Schrei aus. Die kirchenhörigen Wissenschaften Theologie, Philosophie und Mathematik: drei stupid männliche weiße Nachthemden, erstarrend in öder Latein-Dauerschleife - das eigene Reden, um die fremde Wahrheit nicht erfahren zu müssen.

Brecht starb 1956 während der Proben zum »Galilei« am Berliner Ensemble - jenes Stück, das ihn nie losließ, weil es ihm vielleicht zum persönlichsten Stück geworden war. Auch unter jener falschen Sonne Stalin, um die sich alles zu drehen hatte, als wäre die Lüge eine ewige Wahrheit. Brecht wurde in seiner Dramatik ungern zu persönlich, daher schien es, als habe er damals den »Galilei« auch gegen die Dunkelschicht der eigenen Seele inszenieren wollen. Was nicht ganz gelang. Jedenfalls hat Heiner Müller es so erzählt. In den letzten Proben habe sich Brecht mit dem Hauptdarsteller Ernst Busch fortwährend gestritten, ihm eingetrichtert: »Busch, spielen Sie einen Verbrecher, das ist ein Krimineller, ein Mann, der die Wahrheit weiß und sie nicht sagt!« Und Busch immer: »Brecht, das haben Sie so eindeutig nicht geschrieben.«

Galilei nimmt die persönliche wie gesellschaftliche Selbstauslöschung zugunsten der Fortsetzung seiner Arbeit in Kauf: Das einmal Entdeckte muss durchgesetzt werden, egal, wann und wie, und sei’s unterm dicken Mantel der lebensrettenden Feigheit. Doch schaut, wer so denkt, am Ende womöglich nicht mehr ins Teleskop (das hier wie ein Kanonenrohr durch die Wand stößt), sondern einfach nur in die Röhre. Der beeindruckend genussfläzige Galilei von Axel Holst hat in seiner dreitagebärtigen Gewissheitsfreude etwas sympathisch Kräftiges. Und Wetterwendisches. Das Bauchklatschen als Selbstgenuss. Ein Lustfresser - Gänsefedern fliegen, und die »Discorsi«, die sein Schüler Andrea hinausschmuggeln wird, sind in einem großen Käselaib versteckt. Ein Italiener mit Strickjacke, das erbringt Schweißtropfen, als regne es Perlen aus dem Weltall. Er setzt sich selbst als neue Sonne ins Zentrum, in prunkender Egomanie, lässt seine Assistenten und seine Familie um sich kreisen, als seien es Monde. Am Ende aber sieht es ziemlich finster um ihn aus, sein Stern verglüht, und er sitzt stier am Esstisch. Er badet in Milch, die wird ihm Tochter Virginia in der letzten Szene (die Milch der endlich frommen Denkungsart?) über den Kopf kippen. Swetlana Schönfeld zeigt diese Virginia flink, dann fürchtig zwischen Commedia dell’arte und Frömmigkeitsfessel.

Holst zeigt eine hämisch selbstbewusste Kraft, dann stumme Momente der ungläubigen Ohnmacht, er ist von großem (freilich mehr und mehr nervös durchwirktem) Gleichmut und schrumpft schließlich in die totale Erschöpfung - über die sich seine Kleinwampe als Notkleid letztverbliebener Souveränität wirft. Dem Menschen kann das Herz bluten, man sieht das nicht, aber diesem Galilei werden die Augen klein und blind, wie wundgescheuert an dem, was sie am Himmelszelt sahen, aber nicht weitergeben dürfen.

Konstanze Lauterbach hat das Stück nicht in Besitz genommen, sie reicht es gewissermaßen weiter. Sie zerrt nicht an ihm, sie zeigt es. Balance. Klarheit und Deutlichkeit: Tugend wie Not. Alles hat beeindruckende Spannung, es geschieht richtig gute Unterhaltung, aber welche Haltung ist gut? Verdammung findet in dieser Inszenierung so wenig kräftig statt wie Verteidigung. Ist der Widerruf Galileis eine tolle List? Hat Erkenntnis ein Recht außerhalb aller Moral? Oder muss Aufklärung unbedingt einer menschlichen Beglückungspflicht folgen? Damit Fortschritt nicht - wie Galilei sprechspuckt - »Fortschrott« wird. Der Mensch im Zwielicht von Denken, das Dulden überwindet, und einem Dulden, das (heimliches!) Weiterdenken erst möglich macht. Dies Thema offenbart sich auf einem sehenswerten Tableau, weniger in aufwühlender Tiefe.

Die Pest als schwarzer Vogel auf der Rückwand. Musik von Eisler - und italienische Oper: Tragik, aufgerissen vom balkanischen Rhythmus à la Bregović. Du siehst einen Menschen in einer Situation, die ihn zerreißt, und du sagst dir: Ruhig Blut - man hat nichts mehr zu gewinnen und nichts mehr zu opfern, wenn man denn bis hierher, ins Heute also, überlebt hat. Aushalten, haushalten, raushalten? Aus revolutionärer Wahrheit, die den Menschen schlagartig in eine neue Zeit hob, wurden lauter Wahrheiten, die einander aufheben. Dies Unwohlsein trag nach Hause. Gute Nacht?

Da stolpert Galilei: Geknicktes Lob der Vernunft, in deren Namen getanzt und getötet wurde. Wie bleibt man frei - unter Druck? Wie drückt man sich - vor dem Druck? Wie schafft man es, gebeugt und aufrecht zugleich zu sein? Die Lebensfrage. Akrobat schööön: den Eindruck des aufrechten Gangs zu erwecken, ohne die Grundhaltung zu ändern - nämlich auf Knien durch die Verhältnisse zu rutschen. Stets weit und hoch hatte Brechts Held den kleinen weißen Stein über die Bühne geworfen, seinen Gravitationsbeweis. Jetzt schlägt der Stein nur noch den minimalsten Kreis, von einer Handfläche Galileis in die andere. Als zucke die Vernunft mit den Schultern: Meine Versprechungen täuschen nur den, der glaubt, sie würden sich auf dieser Erde erfüllen.

Nächste Vorstellungen: 30. Juni, 6. und 9. Juli

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