Fortschritt oder Fußaufschlitzer

Die Radprofis streiten über die Gefahren neuer Bremsen - und die Industrie macht Druck

  • Tom Mustroph, Vittel
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Quai des Ardennes wird in die Technikgeschichte des Radsports eingehen. Denn mit Marcel Kittel gewann auf der Straße in Lüttich nicht nur der erste Profi mit der drehenden Bremsscheibe am Hinterrad eine Etappe im bedeutendsten Radrennen der Welt. Etwa 30 Kilometer vorher stürzte mit dem Schweizer Reto Hollenstein auch ein Fahrer, der ebenfalls eine Scheibenbremse montiert hatte; es wurde aber niemand von dem scharfen Rotor geschnitten. Wegen der scharfen Kanten wird die Technologie unter anderem von der Fahrergewerkschaft CPA abgelehnt.

Auf Druck der Hersteller, die die neue Technologie gern vermarkten wollen, erlaubt die UCI aber eine Testphase. Sie schließt die Tour de France mit ein. Etappensieger Marcel Kittel, seit langem Nutzer und Befürworter der Bremse, ergriff in Lüttich die Gelegenheit, dafür zu werben. »Mir war zwar nicht bewusst, dass ich mit einem Sieg hier für ein solches Novum sorgen würde«, sagte er auf der Pressekonferenz. Er lobte aber den Hersteller. »Ich bin heute auf einer verbesserten Version von Shimano gefahren, die auf jeden Fall besser funktioniert als die alte. Gerade wenn man den Regen heute gesehen hat: Es wird den Rennfahrern helfen, besser zu bremsen«, meinte er.

Er betonte auch verbesserte Details wie abgerundete Kanten, die die Schnittgefahr verringern sollen. Kittel selbst stand im Frühjahr noch in der Kritik, als Owain Doull Schnittwunden am Fuß präsentierte, die er auf die Berührung mit Kittels rotierender Bremsscheibe zurückführte. Verbesserungen wie diese waren für Kittel Anlass, zu einer Verständigung aufzurufen: »Ich hoffe, wir kommen mit der Industrie, der UCI und vor allem den Rennfahrern zu einer Lösung, die alle schlechten Aspekte beseitigt. Ich unterstütze alle Bemühungen, um Rennfahrer vor möglichen Gefahren zu schützen.«

Fahrradhersteller sind ohnehin für die Scheibenbremse. »Das ist die Zukunft«, meinte Cannondales Marketingchef Murray Washburn. Mike Sinyard, Gründer von Spezialized, prognostizierte gar, dass in zwei Jahren alle Radprofis mit Scheibenbremse unterwegs sein würden.

Für die Hersteller wäre dies eine willkommene Revolution. Denn die neuen Systeme sind teurer, schwerer einzubauen und auch nicht so leicht zu reparieren wie die alten. Im Geschäft mit den Millionen Hobbyfahrern locken größere Umsätze; sie werden folgen, wenn ihre Vorbilder bei der Tour de France auch damit herumfahren.

Im Peloton selbst gibt es zwei Lager: Befürworter und Kritiker. Torsten Schmidt sportlicher Leiter beim Team Katusha gehört zu Ersteren. Er sagt »nd«: »Ich habe überhaupt keine Zweifel an dieser Technologie. Es gibt sie schon einige Jahre an Mountainbikes, es gibt sie im Auto und im Motorrad. Jetzt werden sie am Straßenrad getestet, und der erste gewinnt eine Touretappe damit«, so Schmidt, wohl wissend, dass Kittel im Sprint seine Bremse nicht benutzt hatte. »Die Entwicklung geht einfach weiter. Wir haben auch Scheibenbremsen im Einsatz, fast jeden Tag. Wir haben sie ausprobiert, nicht bei allen Fahrern, aber doch häufig.«

Die Fraktion der Kritiker hingegen warnt. Zu ihr gehört Nairo Quintana. »Unser Zulieferer hat Scheibenbremsen im Angebot. Ich denke aber, wir sollten sie nicht im Rennen nutzen. Ich finde nicht, dass sie so gut bremsen. Sie sind auch laut. Man hört, wenn der Rotor an der Scheibe reibt. Das Rad wird auch weniger aerodynamisch. Und schwerer sind sie auch noch«, meinte der Giro- und Vuelta-Sieger im Frühjahr. »Und dann ist da noch das Problem der unterschiedlichen Bremswege. Für Radtouristen mag das unerheblich sein, für ein Profifeld mit mehr als 100 Fahrern aber nicht«, fuhr er fort. Und er schloss: »Ein Aufwachen wird es nur geben, wenn etwa Tragisches passiert, wenn jemand sein Leben verliert.«

Das klingt drastisch. Aber die unterschiedlichen Bremswege von Felgen- und Scheibenbremse stellen tatsächlich ein Problem dar. In einem Peloton, in dem die Körper dicht gedrängt sind, droht ein Fahrer mit langsamer wirkender Felgenbremse bei einer Vollbremsung auf dank Scheibenbremse schon stehende Kollegen aufzufahren. Das aktuelle duale System mit beiden Bremstechnologien ist also alles andere als weise.

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