Unterwegs, ohne sich zu bewegen

»Graugänse über Toronto« - Journalgedicht des Büchner-Preisträgers Jürgen Becker

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Leben - das fordert von jedem Menschen gleich und für jeden Menschen doch auch immer wieder anders: der eigenen Biografie, dem Durcheinander von mehr oder weniger zufälligen Ereignissen vorsichtig eine Gestalt zu geben. Individualität ist also ein Tätigkeitswort, es ist eine Arbeit, die jeder einzelne mit sich selbst zu leisten hat. Um eine Festigkeit des eigenen Daseins, um eine Logik all der vielen getroffenen Entscheidungen behaupten zu können, die bejahenswert erscheint. Bejahenswert erscheint, was freiem Willen mehr gefolgt haben soll als fremder Steuerung. Dass es so sein könnte, ist unsere ausdauernde Grundillusion - die immer neues Futter will. Gern und gut zu leben, das heißt immer auch zu hoffen, die eigene Welt möglichst nicht an die Welt zu verlieren, die uns lenkt. Das treibt uns, das verschleißt uns.

Der Schriftsteller Jürgen Becker ist der Dichter dieser sinnbesetzten Vergeblichkeit. Sie wird von ihm erfasst in Splittern, in Warteschleifen von Satz zu Satz. Der Autor selbst spricht von »Mustern der Wiederholung«. In seiner Literatur steht Wahrnehmung neben Wahrnehmung. Manchmal kommt es fast zu einer kleinen Geschichte. Fast. Dann wiederum stehen da nur wieder Sätze. Ganz für sich, ohne Zusammenhang. Wie verlassen. Oder so souverän allein wie Findlinge.

Beckers Poesie bildet ein Kaleidoskop jenes Flüchtigen, das wir tagtäglich leben. Auch sein jetziges Langgedicht »Graugänse über Toronto« ist ein Journal - dies Wort benutzt der Schriftsteller oft, zur Selbstkennung seiner Literatur. Es erinnert bewusst, also provokant ans Unliterarische: Es hat etwas von Zeitung und also einer Einladung zum Blättern. Schreiben als Versuch, sichtbare und banale Ereignisse wieder zu verrätseln. »Der Spiegel/ im Flur verändert nichts; er zeigt nur, was du/ nicht wahrhaben willst.« Die langsame Verwitterung. Das Einerlei. Man ist »unterwegs, ohne sich zu bewegen«. Das beweist nahezu jeder Tag, an dem wir einander abjapsen.

Becker war nie jemand, der handfeste Storys schrieb. Jenem Plötzlich, das Spannung verheißt, misstraut er instinktiv; er zeichnet auf, was weit oder unmittelbar vor den Dramen liegt oder danach. Erwartung, Warten, Abwarten. Er wartet mit nichts Auffälligem auf. Bei ihm zieht sich das, was geschieht, im wahren Sinn des Wortes hin - das Leben zieht ja auch uns fortwährend hin; wir bewegen uns in einer Oberflächenströmung, deren Augenblickswirbeln wir uns hingeben, um die Aussichtslosigkeit nicht zu spüren, die unserer Existenz-Drift eingeschrieben ist. Und eingeschrieben bleibt. Der Dichter aus dem rheinischen Odenthal wurde zum Chronisten dieser Drift. »Im Kopf/ die Bilder, für die es kein Museum gibt.« Bilder eines Lebens in Erinnerung. »Stromsperre/ ein verfallendes Wort wie Kleiderkarte, Muckefuck«. Die Jahre nach dem Krieg. »Zeitgeschichte kommt erst an,/ wenn sie von der Familie handelt und Mann und/ Frau sich wieder in den Armen/ liegen.«

Das Buch überführt addierte Einzelheiten in einen Bewusstseinsstrom, der aus dem Unbestimmten ins Absichtsvolle wechselt, ohne die Reize des Vagabundierens zu verlieren. Der Autor reflektiert in seinen Miniaturen eine Anwesenheit in einem endlosen Raum; seine Notizen sind Konzentrationen aufs Vorhandene, dessen Zufalls-Charakter sanft und inständig der Belanglosigkeit enthoben wird. Wirklichkeit ist für Becker das, was langsam verschwindet, aber an den Rändern noch erkennbar bleibt - »Ränder« hieß ein Buch, das vor über vierzig Jahren erschien. Peter Handke hat in einer Laudatio für Becker vom »Grundzug eines zögernden Umreißens« gesprochen; es ist ein Zögern vor der Dingfestmachung des Erfahrenen, des Erkannten. »Die Quote stimmt, das Leben falsch.« Was war denn gestern? Vielleicht war es besser? Hatten wir damals vielleicht noch mehr von dem, was uns eigen ist? Oder hat das Eigene erst im Alter Ausdrucksgelegenheit und -form gefunden?

Leben als das, was nicht wegkommt von den Vergangenheiten. Dies macht den Schwund der noch verbleibenden Zeit so verflucht deutlich. Was war, was ist, was sich als Vorstellung von Zukunft herausbildet - es ist ein fortwährender Schwebezustand der Eindrücke, der bewusstseinsfilmischen Fetzen. Von einst bis heute. »Alles im Eimer,/ sagte der Fähnleinführer und haute ab./ Sah ihn wieder im Blauhemd der FDJ.« Die Zweiteilung der Menschen: »der eine stellt die Kerzen/ ins Fenster, der andere schießt zurück.« Der unbesiegliche Zynismus des Gleichzeitigen: »das Mittelmeer können wir buchen, die Küstenwache/ kümmert sich um die Leichen.« Der genaue diagnostische Blick, mitunter angebracht verächtlich: »die Wut der Leserbriefe schwillt an, gewetzt/ die Messer im sozialen Netzwerk«.

Auch dieses Buch lenkt wie viele Bücher Beckers hin zu all dem Deutschen des 20. Jahrhunderts. »Man kommt ganz schön weit, wenn/ man nach Altlasten suchen geht.« Dieses Jahrhundert wie jedes Jahr und jeder Tag: Hochzeiten von Weh und Wohl. »Geduckt unter Decken hielten wir durch,/ Heimatfrontkinder, bis der Leichenhaufen/ hinterm Stacheldraht uns sagte, dass wir allesamt/ Verbrecherskinder sind. Dann klauten wir auch noch/ Konserven und Koks.« Der dichterische Rückblick offenbart eine Philosophie des Praktischen: Am besten ist es, auf Erfahrungen des Dorfkreises zu bauen und damit jene - von Utopisten gern geschmähte - Kleinheit des Menschen anzunehmen, die in Wahrheit eine große Überstehenskraft sein kann. Kleinheit in Schönheit - aus Nebelschwade und Krähenflug, Birnbäumen und Spechthämmern. »Google weiß mehr, aber/ nicht alles. Schon gar nicht, wo unterm Scheunendach/ der Marder sitzt.«

Wir leben Bruchstücke - und Becker schreibt gegen die Illusion, die Leerstellen zwischen diesen Bruchstücken seien voll Spannung. Sie sind es nicht, aber just dies Unspannende will als Erregungsimpuls erfahren werden, denn: Mehr war uns nicht gegeben. Dies zu tragen, ist das Schwierige. Provinz, der Kern aller Welt. Nur immer wieder im Detail ist zu erforschen, inwieweit Menschen Ausdruck von Zeitbedingungen sind, inwiefern sie auf diese Weise Möglichkeiten von Leben entdecken, aber zugleich auch um viele Möglichkeiten gebracht werden. Und sich selber mit Blindheit schlagen: »Ums Innenleben wird ein Zaun gerollt.« Samuel Beckett hat es in den bodenlosen Satz gefasst: »Wie erträglich das alles ist, mein Gott.«

Die Bücher des Büchner-Preisträgers, der an diesem Montag 85 Jahre alt wird (»Die Türe zum Meer«, »Felder«, »Schnee in den Ardennen«, »Foxtrott im Erfurter Stadion«, »Journal der Wiederholungen«), fabulieren feinfühlig mit am großen Danach, das dem 19. Jahrhundert des Romans folgte. Nachbarschaft, Natur, Nationalgeschichte, Not, Nebbich, das scheinbare Nichts und Nebenbei als lohnender Gegenstand. Poesie wie Filme von Wim Wenders. »Dahinten, da soll was los sein.« Das ist so ein Becker-Satz aus einem seiner Bücher, allein steht er da, wir kennen diesen Satz sehr wohl, denn der Satz erzählt uns. Nichts ist los, und nie wird was los sein. In einem einzigen Satz der Roman unseres Lebens.

Jürgen Becker: Graugänse über Toronto. Journalgedicht. Suhrkamp, 92 S., geb., 20 €.

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