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Vom Waschen der Windeln

Eine Gegenwartspredigt: Friedrich Schorlemmers Buch »Luther - Leben und Wirkung«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Theologen sind Artisten besonderer Art. Sie predigen Gott, also die pure Gegenstandslosigkeit. Sie springen hinunter ins Leben, aber ihr rettendes Netz hängt weit über ihnen. »Woran du nun dein Herz hängst und worauf du dich verlässest, das ist eigentlich dein Gott.« So sprach Martin Luther.

Man kommt derzeit an Luther-Deutungen nicht vorbei. Die rempeln dich geradezu an. Das Störendste, etwa an der Bücherwelle, ist eine Spezialform der Verklärung: dieser behauptete und gefeierte Gleichklang von lautem und leisem, edlem wie handfestem Menschen. Er ist Geist ebenso wie Grobian. Er vereint alles, was nur Gegensatz sein kann, ist Inbegriff eines universalistischen Verhaltens, in dem scheinbar jede Tugend und jede Not, jede Anständigkeit und alles Unreine, jede Feinheit und jeder Furz reibungslos vereinigt sind. Nichts Menschliches sei ihm fremd, behauptete einst der antike Terenz. Klingt sehr geflügelt, behauptet aber eine Vollkommenheit der Unvollkommenheit, die in sich schon wieder anrüchig und eitel wirkt.

Und so basteln sie alle auch an Luther: am Heiligenbild eines irdisch Unheiligen, eines kraftvoll Sauberen wie berückend Unflätigen. Und natürlich ist er treusorgend und humorvoll. Es entstehen Projektionen, die gähnen machen. Nichts Menschliches fremd? Wer alles ist, wird nichts. Und damit ungefährlich. Man richtet Luther her und richtet ihn hin. Der Reformator als Kaufhaus für alle. Oder, wie Friedrich Schorlemmer schreibt: »Luther als kompletter Mensch, und komplett bedeutet: Das eine relativiert das andere.« Schorlemmer blickt auf das Wittenberger Luther-Denkmal: »Er macht den Eindruck, dass er sehr fest steht, um nicht zu sagen: unbeweglich.«

Und also wächst Lektüre-Lust auf die dunkle Kraft dieses Genius. Schorlemmers Buch »Luther - Leben und Wirkung« bietet genügend Stoff, auch wenn er ebenfalls diese Einheit des Unverträglichen singt: »Der Mensch Luther steht uns als ein so frommer wie sinnenfroher, ein so geradliniger wie widersprüchlicher Mensch vor Augen.« Ja, ja, beeindruckend, aber auch ein neuerlicher Beweis: Jede Dialektik - als Ausgleich von Plus und Minus - ist so wahr wie langweilig. Sie wäscht aus.

Was ist im Heute stark an Luther? Seine Verwendbarkeit für jeden Gesinnungsgütigen? Vielleicht doch eher sein Blick auf die untilgbare Ge- und Verworfenheit des Menschen. Vielleicht doch eher seine Überzeugung, dass nichts und niemand sündenfrei ist - und Nächstenliebe nicht rettet, sondern nur mildert. Vielleicht seine Ahnung, dass man zwar vieles Arge aus dieser Welt vertreiben kann, nicht aber die Sorge (schlag nach in Goethes »Faust, Zweiter Teil«!). Vielleicht seine Entschiedenheit in einer Frontenziehung, die inzwischen zu einem modernen Wort führte: »Fundamentalismus«. Luther war kein Umverteilungsagitator, er war ein Gerechtigkeitsforderer, der den Einzelnen aber in keinem Punkt von der Pflicht fortwährender Gewissensqual freisprach.

Luther - das ist die Überzeugung, dass die Außenkraft der Verhältnisse uns nicht wirklich ändert. Was nun überhaupt nichts gegen den Kampf für soziale Gerechtigkeit sagt, aber doch darauf verweist, dass die Heroisierung des Plebejischen ebensolche Befürchtungen auslösen kann wie die Arroganz der fürstlichen Standesart. »Der Pöbel hat und kennt kein Maß, und in jedem stecken mehr als fünf Tyrannen.« So zitiert ihn Schorlemmer und bringt den »Athleten religiöser Rücksichtslosigkeit« (Biograf Willi Winkler) auf den Punkt: »Also: Ordnung vor Chaos, Gehorsam vor Aufruhr!« Ein Gehorsam vor Gott. Das ist der Weg zum besinnungsfähigen guten Menschen - aber eben auch zum besinnungslosen Soldaten.

Schorlemmer beschreibt das Verheißende dieser Denkungsart wie das Verheerende. Er hat Kronzeugen wie Herder - und Hitler. So hat er mit seinem Luther-Buch ein Werk geschrieben über jene Unausweichlichkeit im Schicksal jeder Idee, jeder Freiheit, jeder Größe: Sie liegt in Brauch und Missbrauch.

Luthers Bekehrungslehre, sein christliches Belehrungspathos - das zielte auf eine Radikalität des gesellschaftlichen Mitsprache- und also Einspruchsrechts, vor der sich alle fürchten sollten, die ihn heute gar zu zungenfertig über den grünen Klee loben. Luther ist kein Versöhner, er ist ein begnadet eisenharter Spalter, er reißt in seinem Träumen und Toben fürs Seelenheil äußerst kräftig ein: vor allem jede konfliktbeschwichtigende Frömmigkeit, jede Überbetonung von Konsens und Verträglichkeit, jede samtene Beschwörung von Toleranzliebhaberei, jedwede strukturelle Betonierung.

Schorlemmer schreibt: »Wir Menschen leben mit dem Verlust des Paradieses.« Der Satz hat es in sich. Er benennt jene Erkenntnis, von der aus das Gegenteil von Marx nötig wird: Das Bewusstsein möge das Sein bestimmen. Luther: »Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturen, nicht dass er die Windeln wäscht, sondern dass er’s im Glauben tut.« Nur die Selbststeigerung durch einen Glauben geleitet uns verlässlich durch die Welt. Denn existenziell ist doch nichts haltbar, just deshalb halten wir uns an Utopien, an höhere, fernliegende (Er-)Lösungsmodelle. Sehnsuchtspläne gegen all das Teuflische, das nie verschwindet. Schorlemmer nennt den Teufel »eine mythologische Umschreibung für alles, was Menschen durcheinanderbringt, niederdrückt«. Wenn das so ist, dann wird Gott ebenfalls zur mythologischen Umschreibung - nämlich jener Gegenwehr, die den Menschen aufrichtet. Wie eben auch der Glaube an den Kommunismus eine Mythologie ist, die den untilgbaren Schmerz über das Auseinanderklaffen von Lebens- und Geschichtszeit betäubt. Aller Reichtum des Projizierens, was dem Menschen an Großem möglich sei, es endet in dem, was Schorlemmer als die »wohl demütigsten Worte« Luthers bezeichnet: »Wir sind Bettler, das ist wahr.«

Dies ist keine weitere Biografie Luthers. Es ist das Lesebuch einer Denkwerkstatt. »Freiheitsglaube, Zivilcourage und Gewissensbindung« heißt eines der 35 Kapitel - im Grunde geht es in allen Texten um diese Dreifaltigkeit, immer im fließenden Übergang von historischer Betrachtung und gegenwärtigem Auftragsbezug. Zudem verfolgt Schorlemmer Luthers Einflüsse in der deutschen Geistes- und Ungeistesgeschichte - bis hin zur marxistischen Forschung in der DDR, die 1978 bemerkenswerte Thesen vorlegte, die der Autor als »Durchbruch« bezeichnet: »Historie wurde aus dem Radius der jeweils handelnden Gestalten heraus betrachtet, statt alles Geschehen vom heutigen Standpunkt aus zu deuten und es in den Legitimationsrahmen für die eigene Machtpraxis zu pressen.«

Es spannt sich ein Bogen von Müntzer zur Prosa von Volker Braun, Schorlemmer erinnert an eine wunderbare Luther-Einrede von Walter Jens, schreibt über Zeitgenossen des Bibelübersetzers, am liebevollsten über Melanchthon. Er spricht von der »Vergebungsbedürftigkeit« des Menschen und notiert: »Die Zeit der Reformation und der Gegenreformation kann in ihrer sich aufschaukelnden Polemik als ein historisches Exempel gelten«, und zwar für eine durch die Jahrhunderte führende »zerstörerische und verlogene Funktion von Vorurteilen und Feindbildern«. So konnte in der Bundesrepublik »der Bolschewismus herhalten für einen strammen Antikommunismus«, und die DDR hat »auf eine so verständliche wie unangenehme Weise den Hass auf ›die Faschisten‹ und damit den Antifaschismus als eine Rechtfertigung für die eigene, politisch unterdrückende Praxis« benutzt. Geschichte: Sie kennt keine Seiten, nur einander bedingende Kehrseiten.

Der Wittenberger Pfarrer setzt mit diesem Luther-Buch die Ausbreitung seiner Mahn-Confessio fort, die all seine Schriften durchzieht: Wo die Auffassung vom nackten und leeren, sinnverwaisten Dasein sich zu Tage arbeitet und allzu expressiv wird, dort zerfallen jene ethischen Kontrollen, die auch der Reformator als Zähmung anbietet. Wo das vereinzelt gewordene In-der-Welt-Sein seine Wildheit ungehemmt vorführen darf (und der entfesselte Kapitalismus fördert diese Wildheit) - dort treten Existenz und Moral auseinander; der Wille zum Gutsein erscheint dann wie eine schale Maske oder ekelhafte Gemütlichkeit, es gibt keine Verbindung mehr zwischen Seele und katastrophischem Bewusstsein. Dagegen schreibt der Lutherstädter an. Empört, aber den Menschen bejahend. Wer Schorlemmer liest, der erfährt, dass Bejahung stets größere Texte schafft als Verneinung.

Friedrich Schorlemmer: Luther - Leben und Wirkung. Aufbau Taschenbuch. 380 S., 12,99 €.

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