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Babylonische Sprachverwirrungsekstasen

Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie bewegt man sich am schnellsten durch Venedig? Darüber nachzudenken, habe ich viel Zeit, als ich vom Stadtteil Castello nach Santa Croce unterwegs bin - am anderen Ende der Stadt. Dort bin ich mit dem Bühnenbildner Ezio Toffolutti verabredet. Hier in Castello, gleich hinter dem Ospedale, an einem viel befahrenen Kanal, liegt in diesem Jahr meine Sommerwohnung. Die Wohnung der Jahre zuvor auf der Giudecca, gleich hinter der Redentore-Kirche und vis-à-vis dem verlassenen Frauengefängnis, vermieten die Eigentümer nicht mehr, sie wollen sie lieber verkaufen. Bis dahin steht sie eben leer - und verfällt.

Es war ein Fehler, mit dem Vaporetto zu fahren, erst recht mit der Linie 4.2 ums Arsenal (von der Rückseite zur Lagune hin) und um Sankt Elena herum, das ist wie eine Reise um Kap Horn: Es dauert schier ewig. Schneller wird es auch nicht, als ich dann in die Linie 1 umsteige, die übervoll mit Tagestouristen an San Marco vorbei in den Canal Grande fährt. An den Haltestellen warten die Vaporettos in Schlangen, Taxen und Gondeln schieben sich immer wieder dazwischen und erst nach über einer Stunde komme ich am Ca’ Rezzonico an. Von hier aus sind es nur noch fünf Minuten bis zur Piazza Santa Margaritha. Viel zu spät komme ich an. Gewiss, wer es eilig hat in Venedig, der fährt Wassertaxi, aber das ist was für Leute, die sich auch mit einem Hundert-Euro-Schein die Zigarette anzünden. Von denen gibt es offenbar mehr als vermutet, wenn ich mir die vielen Taxen anschaue, die - Tag und Nacht - vor meinem kleinem Balkon vorbeiziehen.

Vermutlich ist zu Fuß zu gehen in Venedig immer noch die schnellste Fortbewegungsart, so man sich denn nicht verläuft. Denn die beiden einzigen Brücken, die über den Canal Grande führen, sind das Nadelöhr. Wenn man die wie für die Ewigkeit gebaute Rialto-Brücke und die 1854 (sehr spät, in Venedigs schlechtester Zeit) errichtete, bereits bedenklich wacklige bei Accademia verfehlt, dann steht man wie an den Ufern des Rheins. Nicht mal Schwimmen wäre eine Lösung.

Toffolutti wartet, er kennt das mit den Besuchern, die sich falsche Vorstellungen machen über die Zeit, die diese Stadt von denen verlangt, die sich in ihr bewegen. Er selbst ist ein Bewohner zweier Welten. In Venedig wurde er 1944 geboren, heute ist er hier Professor, einer der wenigen Intellektuellen, die noch dauerhaft in der Stadt leben. Aber eigentlich ist er zur Hälfte auch Ost-Berliner. Mit siebenundzwanzig Jahren kam er an die Volksbühne zu Benno Besson, dem Schweizer Brecht-Schüler, den andere Brecht-Schüler am Berliner Ensemble weggebissen hatten, weil er zu begabt für bloßes Epigonentum war. Das war 1971. Wie war Ost-Berlin damals? »Die Stadt war grau, aber in den Theatern selbst war viel Farbe«, antwortet er.

Als Toffolutti kam, startete Besson gerade seine berühmten »Spektakel«, kurze Stücke, Einakter an allen Orten im und ums Haus - und dazwischen war einfach ein großes Fest. Es war jener jugendlich-frische Geist rund um die X. Weltfestspiele 1973, der den Künstlern suggerierte, die Zeit der Tabus in der DDR sei vorbei. Die »Spektakel« funktionierten, und der junge Italiener war fasziniert. Dreimal erhielt er in den siebziger Jahren den Berliner Kritiker-Preis, die Ästhetik von Bessons Volksbühne hat ihn geprägt. Als Besson dann einen Nationalpreis bekam, stiftete er davon eine Sauna im Keller des Theaters, in die vom Intendanten bis zur Ankleiderin alle gingen. Wo gäbe es das heute?

Und nun in Venedig? Er kämpft, wie so viele hier, gegen die riesigen Kreuzfahrtschiffe, die tagtäglich durch die Lagune gezogen werden. Aber der Profit, den wenige davon haben, ist viel zu hoch, als dass dieser Wahnsinn enden könnte. Die Stadt selbst hat nichts von den Kreuzfahrtschiffen, nur den Schaden. Toffolutti lacht bitter: »Der Kommunismus frisst seine Kinder, der Kapitalismus frisst - alles.« Dieser Ost-Berliner Venezianer hat ziemlich viele Probleme mit seiner Stadt, die er genauso liebt, wie er sie hasst.

Der Kellner kommt, wir bestellen Wasser - eine Plasteflasche wird gebracht, die der Maestro mit einem heftigen italienischen Wortschwall wieder zurückgehen lässt. Ich mag keine Plasteflaschen, sagt er dann erklärend. Eine Karaffe kommt, samt Eis und Zitrone. Toffolutti ist besänftigt. Gerade die einfachen Dinge im Leben brauchen eine besondere Form, sonst wäre es nicht auszuhalten. Da sind wir uns einig.

Wenn man Toffolutti reden hört, dann wähnt man sich mitten in einem deutsch-italienischen Steinbruch. Es klingt irgendwie märchenhaft, wie es auch so viele seiner Bühnenbilder sind (heute arbeitet er vor allem mit der Besson-Tochter Katharina Thalbach bei ihren Opern-Inszenierungen). Es ist eine ganz eigene Sprache, die er spricht, eine, in die man sich hineinhören muss, aus italienisch-deutschen Worten phantastisch gebaut - und was man trotzdem nicht versteht, das muss man sich eben selbst hinzudenken.

Am Anfang, sagt er, haben sie sich damals an Bessons Volksbühne, diesem babylonischen Turm der Sprachverwirrungsekstase, eher mit Zeichen verständigt. In dem Stil: »I like Francis Bacon!« Hielt sein Gegenüber dann den Daumen hoch, war die Welt in Ordnung, und er wusste, wie sein nächstes Bühnenbild aussehen wird. So schön, so einfach.

Gunnar Deckers »Notizen aus Venedig« der Vorjahre sind im Buch »Venedig für Skeptiker« erschienen (Quartus-Verlag, 168 S., 16,90 €) und erhältlich im nd-Shop, Tel.: (030) 2978-1777.

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