Es liegt was in der Luft

Gradierwerke stehen heute in noch 59 deutschen Orten - für viele sind sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor

  • Harald Lachmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Manchmal verrät schon der Name einer Stadt, zu welchem Behufe sie gegründet wurde: Salzgitter, Salzelmen, Salzungen, Salzdetfurth, Salzkotten, Salzhausen, Salzuflen... Die Solequellen unter ihnen verloren zwar längst ihre industrielle Bedeutung, doch ein Wirtschaftsfaktor sind sie dennoch. Stolz werben 59 deutsche Kommunen mit ihrem Gradierwerk, in dem man hochgepumpte Sole durch Schwarzdornreisig wieder herab träufeln lässt, damit dann Wind und Sonne das Salz aus dem Wasser lösen. Mancherorts geschieht das schon seit dem 16. Jahrhundert. Nur: Heute werden die benachbarten Siedehäuser, einst gebaut zum weiteren Eindampfen des nunmehr konzentrierten - gradierten - Salzes, anderweitig genutzt.

Nicht selten bilden die eigenwilligen Holzgerüste sogar das wichtigste Wahrzeichen dieser Orte. Manche sind Hunderte Meter lang und bis zu zwölf Meter hoch. So misst das Gradierwerk in Bad Dürrenberg bei Merseburg (Sachsen-Anhalt) 636 Meter - es ist die längste noch zusammenhängend erhaltene Anlage ihrer Art in Deutschland. Ursprünglich war sie sogar dreimal so lang und wurde damit nur übertroffen von den einst 1837 Metern des Gradierwerkes in Bad Salzelmen (Sachsen-Anhalt).

Warum ausgerechnet Schwarzdorn?

In Gradierwerken werden zumeist Schwarzdornzweige benutzt - wegen ihrer speziellen Eigenschaften: Das Reisig des auch Schlehe genannten Gehölzes bleibt lange luftdurchlässig, ist haltbar und fördert mit seinen Dornen die Ablagerung von Verunreinigungen wie Kalk, Gips oder Eisen. Wegen dieser Ablagerungen müssen die Schwarzdornzweige etwa alle acht bis zwölf Jahre erneuert werden - andernfalls würde die Anlage schließlich komplett »zuwachsen«. nd

Dass sich heutzutage entlang der Gradierwerke Wandelstege und Sitzbankreihen ziehen, hat mit dem längst entdeckten medizinischen Nutzen zu tun. Denn sie erzeugen mit dem zerstäubten Salzwasser ein Mikroklima wie an der Nordsee. Vor allem Asthmatiker und Allergiker bekommen von ihrem Hausarzt häufig den Rat, sich um eine Kur in solch einem Heilbad zu bemühen. Wirkt die salzhaltige Brise doch desinfizierend, abschwellend, schleimlösend.

Damit ziehen diese Orte Gewinn aus der »regelrechten Allergiewelle«, die Experten wie der Allergieforscher Prof. Dr. Carsten Schmidt-Weber vom Helmholtz-Zentrum München »auf uns zu rollen« sehen. In aller Regel bringen die Patienten Kaufkraft in die Region, sie füllen Herbergen und Lokale, sorgen für Beschäftigung. Und so findet man Gradierwerke weiterhin in der gesamten Republik - von Bad Aibling in Bayern bis Bad Wilsnack in Brandenburg. Nur in Mecklenburg-Vorpommern und den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg fehlen sie. Moderne Erlebnisthermen lassen inzwischen auch Miniatur-Gradierwerke bauen, um von dem Boom zu partizipieren - so in Baden-Baden, Bad Kissingen und Burg im Spreewald.

Angesichts dieser Fülle sucht man mancherorts schon nach Alleinstellungsmerkmalen für die eigene Schwarzdornwand. Das thüringische Bad Salzungen wirbt mit »Singen im Gradierwerk«, denn Gesang sei die beste Art, Sole zu inhalieren. Im westfälischen Hamm illuminiert man das Gradierwerk im Advent farbenfroh und verkauft sich so seit 2010 als »weltweit einmaliges Forum der Lichtprojektionskunst«. Und Bad Rothenfelde in Niedersachsen rühmt sich seit 2007 wieder der einzigen Kokerwindmühle auf einem deutschen Gradierwerk - indes als Nachbau.

Nicht sehr originell aber zeitgeistgemäß ist zudem die Idee im lippischen Bad Salzuflen, die schick sanierte Anlage nun als »ErlebnisGradierwerk« zu bewerben. Die Besucher können zwar nicht in 1000 Meter Tiefe steigen, woher die Sole kommt, aber die massive Holztreppe zu einer neuen Aussichtsplattform erklimmen.

Und immer weitere Orte springen auf den Zug auf. Bereits seit 1999 erschloss sich etwa das niedersächsische Bad Münder mit einem detailgetreu rekonstruierten Gradierwerk neue Gästegruppen. Bad Dürrheim im Schwarzwald schuf sich 2013 für 2,57 Millionen Euro eine Salznebel verbreitende Anlage, wobei allein die über 300 Kubikmeter polnischer Schwarzdorn mit 100 000 Euro zu Buche schlugen. Und im hessischen Bad Nauheim soll nun auch die 30 Meter hohe, arg angejahrte Windmühle wieder Flügel erhalten. Ein örtlicher Verein kalkuliert hierfür mit stolzen 400 000 Euro.

Gar 650 000 Euro investiert das mittelhessische Bad Salzhausen bei Nidda in den Neuaufbau seines Gradierwerks. 2018 soll dieser ebenso abgeschlossen sein wie die Sanierung der Anlage im hoch verschuldeten nordhessischen Bad Sooden-Allendorf. Hier hatte man sogar 1,7 Millionen Euro für das Projekt veranschlagt - sich damit aber wohl übernommen. So diskutiert der Stadtrat nun über abgespeckte Varianten.

In Bad Sassendorf bei Soest (Nordrhein-Westfalen) plant hingegen eine Gesellschaft einen »Kurpark 3.0«, in den das erst 1962 erneuerte Gradierwerk angeblich nicht mehr passt. Einst als »Kurort des kleinen Mannes« gefeiert und gefördert, sieht sich Bad Sassendorf nun zu Höherem berufen - mit Fünf-Sterne-Sauna und so.

Und in Zeiten, da mündige Bürger gegen so manches Projekt Protest anmelden, bleiben auch Gradierwerke nicht verschont davon. In Königsborn bei Unna gab ein Verein, der ein neues Gradierwerk in den Kurpark setzen wollte, nach längerem Kampf auf. Die Bürgerinitiative Kurparkfreunde, die gegen das Projekt mobil machte, fand offenbar Gehör für ihre Argumente: »Zu groß, zu teuer und am falschen Platz.« Vor allem befürchtete man, dass die versprochene finanzielle Beteiligung der Stadt Unna »ein Fass ohne Boden« werde. Denn man hatte längst in Erfahrung gebracht, dass allein für Betrieb und Wartung der Anlagen hohe Kosten auflaufen.

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