Großmeister der Mythen

Gedenken an Ovid

  • Sebastian Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein spitzer Schrei zieht über das nächtliche Tempelhofer Feld. Es kommt von der bluttriefenden, schwarz gekleideten Procne, die in gewaltigem Hass auf den treulosen Mann ihren Sohn tötet. Ihre Flucht vor seiner Rache endet an diesem Sommerabend auf dem ehemaligen Berliner Flughafen als Vogel. Ganz genau so, wie Ovid in seinen »Metamorphosen« die Verwandlung beschreibt.

Vor 2000 Jahren starb der römische Dichter. Nicht nur aus diesem Anlass bringt das Theater Anu »Ovids Traum« zur Aufführung, eine choreographische Adaption von Mythen aus dem wirkmächtigsten Werk des Autors. Für Bille Behr, die sich mit ihrem Mann die Leitung des Theaters teilt, ist Ovid heute noch aktuell. Das Spektrum an menschlichen Leidenschaften sei nämlich noch immer dasselbe.

Im Jahr 2017 steht Ovid wegen des Jubiläums wieder im Fokus. Und das nicht nur unter Theatermachern und Altphilologen. So hat der Vespa-Club in Sulmona, einer kleinen Abruzzen-Gemeinde etwa zwei Autostunden östlich von Rom, einen Kalender über den berühmtesten Sohn des Ortes herausgebracht.

Bereits als junger Mann kommt der Dichter mit seinen frühen Schriften über die Liebe (»Amores«, »Ars amatoria«) zu literarischem Erfolg. Doch ist Publius Ovidius Naso - so der vollständige Name - bis heute vor allem wegen seines mythologischen Großwerks, der »Metamorphosen«, bekannt. »Ein Großteil des Wissens über antike Mythologie läuft über Ovid«, sagt Ulrich Schmitzer. Der Berliner Lateinprofessor erklärt, dass viele Sagen zwar bereits zuvor Kernbestand der griechisch-römischen Antike waren, doch einige von ihnen allein durch Ovid überliefert sind. Etwa über Philemon und Baucis, das alte, gastfreundliche Ehepaar, das sich nach dem Tod in gewundene Bäume verwandelt. Oder über die Liebenden Pyramus und Thisbe, die nicht zusammenfinden können (und später als Romeo und Julia noch berühmter werden).

»Vor Ovid sind diese Mythen nicht belegt«, sagt Schmitzer - und schiebt noch hinterher: »Sie sind von ihm erfunden«. Daneben gebe es zuvor wenig bekannte Episoden, die der Römer erst populär machte: der selbstverliebte Narcissus, der zweigeschlechtliche Hermaphroditus oder der um seine Eurydice trauernde Sänger Orpheus.

Doch nicht nur Ovids mythologische Dichtung, auch seine letzte Schaffensphase hat sich als Bezugspunkt gehalten - wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrund: Im Jahr acht nach Christus wird er nach Tomi am Schwarzen Meer (heute Constanta in Rumänien) verbannt. Er selbst nennt zwei Gründe: »carmen et error«, ein Gedicht und ein Irrtum. Zum einen dürfte Kaiser Augustus wegen seiner strengeren Sittengesetze wohl die »Ars amatoria« (»Liebeskunst«) nicht gefallen haben. Für Exil-Autoren späterer Zeit haben die klagend-elegischen Briefe (»Tristia«, »Epistulae ex Ponto«) aus der Verbannung eine immense Bedeutung. Ob Alexander Puschkin oder Bertolt Brecht - Ovid wird zur zentralen Identifikationsfigur für Vertreibung und Verzweiflung. Und 2017? »Wenn man ihn zum Beispiel türkischen Intellektuellen zu lesen gibt, finden sie bei Ovid genau ihre Erfahrungen wieder.« dpa/nd

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