Willkommen in Papua

Australien hat mit Papua-Neuguinea ein Abkommen, das es erlaubt, Flüchtlinge auf die Insel abzuschieben. Einblicke in ein vermeintlich sicheres Drittland

  • Malte Schotak
  • Lesedauer: 9 Min.

Mittags ist die Hauptstraße des kleinen Küstenortes Vanimo voller unbeschäftigter Menschen. Aber im Gegensatz zur Atmosphäre in anderen Entwicklungsländern bewegt sich die Masse nicht. Es sieht ein bisschen so aus, als warte die gesamte Bevölkerung gelangweilt auf einen Bus, der nie kommen wird. Da teilt sich die Menge und gibt den Blick frei auf zwei Betrunkene. Unbeholfen und mit unsicherem Stand ringen die Männer inmitten der staubigen Straße.

Plötzlich stürmt aus einem Geschäft ein anderer Mann dazu. Über seinem Kopf hält er eine lange Holzfälleraxt, zum Schlag bereit. An der Klinge baumelt noch das Preisschild. Einer der beiden Kämpfenden ergreift panisch die Flucht, stolpert und fällt auf den Bauch. Knapp kann er sich beiseite werfen, als die Axt mehrmals mit voller Wucht an Stellen vom Boden abprallt, wo er Sekundenbruchteile vorher noch lag. Ein Stammesbruder entringt dem Wütenden die Axt und schmeißt sie im hohen Bogen über einen der vielen Stacheldrahtzäune hier in der Stadt - Alltag in Papua-Neuguinea.

Ich bin eigentlich mit den Liddels zum Lebensmitteleinkauf für unseren Trip unterwegs. Die Liddels sind eine Familie, die hier seit drei Generationen missioniert. 1952 war der älteste, Kay Liddel, nicht nur der erste der Familie, sondern auch einer der ersten Weißen überhaupt in dieser Gegend. Die Christen aus Europa und Australien erwarteten dort Menschenfresser vorzufinden. So war er wenigstens nicht überrascht, als er die Beichten abnahm. Jeder der von ihm frisch Getauften hatte im Durchschnitt bereits drei Männer getötet. Die Frauen und Kinder hatte keiner gezählt.

Heute sieht man nur Frauen schwere Lasten in ihren Bilums (traditionelle Kopftragetasche) tragen, während ihre Männer lässig vorwegschlendern. Früher musste die Familie ständig Überfälle aus dem Hinterhalt befürchten. Da war es wichtig, dass der Verteidiger der Familie abwehrbereit blieb. Diese Kämpfe waren so zahlreich, dass jeder überlebende Mann aufgrund des Geschlechterverhältnisses drei Frauen heiraten konnte. Die Liddels nehmen mich mit ihrem Toyota Pick-up über eine der wenigen überhaupt existierenden Dschungelpisten in einer eintägigen Fahrt bis nach Greenriver mit. Green, wie die Einheimischen sagen, ist ein Internat mitten im Busch am Oberlauf des mächtigen Sepik-Flusses. Es findet gerade ein Treffen christlicher junger Menschen statt. Die Liddels stellen mich auf Tok Pisin dem »Bigmen« vor, dem Häuptling des Nachbardorfes. Er verspricht mir gegen Bezahlung seinen Sohn als Führer zur Verfügung zu stellen. Offiziell soll dieser mir bei der Orientierung helfen. Tatsächlich ist es eher eine Schutzgeldzahlung. Denn nur mit dieser Zahlung, durch die Protektion der auch heute noch enorm einflussreichen Missionare und unter Einbeziehung der Häuptlinge, kann ich mich hier überhaupt einigermaßen sicher bewegen.

Von den Liddels erfahre ich, dass Wakin, der am meisten gefürchtete Krieger der Region, das nahe gelegene Dorf Buna in der Vergangenheit immer wieder überfallen und viele seiner Bewohner getötet hat. Frühmorgens umstellte er mit seinen Kriegern abseits gelegene Häuser, um dann die hölzernen Pfahlbauten anzuzünden. Als die Bewohner aus dem brennenden Haus flüchteten, erschoss er sie mit seinem Bogen aus dem Hinterhalt.

Erst nach seinem natürlichen Tod im Jahr 2009 konnte Kay Liddel ein Friedensabkommen zwischen den verfeindeten Dörfern aushandeln. Ich beschließe, das Dorf am Oberlauf des Sepiks zu besuchen.

Am Abend vor meinem Aufbruch ereignet sich eine seltsame Szene. Die Menschen aus den umliegenden Dörfern halten einen Gottesdienst draußen auf der Wiese ab. Beim Beten geraten einzelne in Trance und Ekstase. Sie tanzen mit himmelwärts gestreckten Armen und weit gespreizten Fingern. Schließlich fallen sie mit verdrehten, nur noch das Weiße zeigenden Augen in Trance zu Boden. Genau in diesem Augenblick bricht effektvoll - und tatsächlich wie auf ein Inszenierungszeichen - der berüchtigte Tropenregen los. In Minutenschnelle steht das Gelände knöchelhoch unter Wasser und die Sicht verringert sich in dem ohrenbetäubenden Geprassel auf wenige Meter. Die Ohnmächtigen beginnen nun in dem nur wenige Zentimeter tiefen Wasser zu ertrinken! Als Atheist bin ich noch auf den Beinen und renne mit anderen durch den Sturzregen, um die Leblosen unter Vordächer in Sicherheit zu ziehen.

Der Pfad nach Buna gleicht am nächsten Morgen einem Sumpf. Wir versinken immer wieder bis zur Hüfte. Nach ein paar Kilometern an einem von Menschenhand durch den dichten Dschungel gegrabenen schmalen Kanal entlang können wir auf einen Einbaum umsteigen. Die Männer müssen als Krieger traditionell im Stehen paddeln, die Frauen dürfen dies nur im Sitzen.

Tage später erreicht, stellt sich der Sepik als ähnlich mächtig und imposant wie der Amazonas heraus. In Buna komme ich im Junggesellenhaus unter. Von unserer Hütte aus lässt sich das Dorfleben gut beobachten. Vom benachbarten Pfahlbau klettert eine Frau über die Leiter hinunter. Da springt ihr vor Wut kreischender, vielleicht 13-jähriger Sohn aus der Tür. In der Hand eine Machete, die er auf den Kopf der hinabkletternden Mutter niedersausen lässt. Erst kurz vor dem Kontakt stoppt er. Die Mutter wirft ihm wütend den toten Fisch ins Gesicht, den sie unter dem Arm getragen hat. Wenig später ist alles vergessen und der Familienfrieden wieder scheinbar ungestört.

Zurück in Green muss ich ein paar Tage warten, bis mich ein Pick-up-Truck mit zurücknimmt. Es ist ein Händler, der Krokodilhäute und schwere Säcke mit Rohkakao zur Küste transportiert. In Papua-Neuguinea braucht er dafür eine Mannschaft. Ihre Aufgabe ist es, den Truck und die Ladung gegen Raskalls, die allgegenwärtigen Räuber zu schützen. Zusätzlich besteht ihr Job darin, den versinkenden Truck aus Sümpfen zu hebeln, die Piste mit gefällten Bäumen passierbar zu machen, den Motor zu reparieren, die Reifen zu wechseln, die Achsen unterwegs auf der Piste zu tauschen und die Ladung über steile Strecken zu tragen. Er hat schon acht Mann Besatzung und einen Bordmechaniker für das Auto. Trotzdem gelingt es mir erstaunlich leicht, ihn zu überreden, mich auch noch anzustellen. Später im Führerhaus stellt sich heraus, dass er erfahren hat, dass ich Deutscher bin. Er hat einmal »Stalingrad« auf DVD geguckt. Mangels Schulbildung hat er dabei offenbar nicht so richtig verstanden, dass es sich um einen Spielfilm handelt und die erzählte Geschichte schon ein paar Jahre zurückliegt. Hängengeblieben ist, dass die Deutschen toughe Typen und gute Kämpfer sind. Papua ist eben eine Insel, die kaum Kontakte mit der Außenwelt hat. Hier gilt man schon als Mann von Welt, wenn man nicht nur den Busch kennt, sondern, so wie er, auch schon einmal im Leben das Meer gesehen hat.

Das Benzin für den Rückweg nach Vanimo zapfen wir mit Hilfe eines Schlauchs aus parkenden Holztransportern ab. Niemand wagt es dabei, sich unserer elf Mann starken Crew in den Weg zu stellen.

Als ich ein paar Tage später Papua-Neuguinea wieder verlasse, werde ich an jedem einzelnen Tag Gewalt erlebt haben. Am nächsten kommt mir selbst die Gewalt, als mich der Häuptlingssohn mit seinen Gefährten auf einer einsamen Dschungelpiste doch noch zu überfallen versucht. Ich beobachte, zurück in Vanimo, wie ein Mann seine Frau tagsüber auf offener Straße zusammenschlägt, ohne dass irgendjemand eingreift. In der Nacht bricht in unmittelbarer Nachbarschaft meines Schlafplatzes ein Feuergefecht aus. Am nächsten Tag erfahre ich, dass die lokalen Gangs wütend auf die Polizei gewesen seien. Um sich zu rächen hätten sie versucht, das Polizeirevier zu stürmen.

In Papua-Neuguinea, wo 85 Prozent der Bevölkerung im schwer zugänglichen Hochland leben, habe ich von all meinen Reisen die wildesten Menschen getroffen. Wild im Sinne von nah an der Natur lebend. Aber auch wild im Sinne von unbeherrscht, sehr fremd und gewaltbereit. Die Polizei ist offensichtlich nicht in der Lage, ihr Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten. Die Lücke wird von den jungen Männern gefüllt. Sie ziehen die Verbrecher zur Rechenschaft und beschützen die Dorfgemeinschaft. Für die Besetzung dieser gesellschaftlich wichtigen Position werden sie von den eigenen Leuten als mutige Kämpfer geachtet. Damit setzen sie die lange Tradition ihrer kriegerischen Vorfahren fort. Gleichzeitig sind diese Männer aber auch diejenigen, die in den Städten moderne Gangs bilden und vom Drogenverkauf leben. Die Raskalls sind es auch, die andere Stämme überfallen, vermeintliche Hexer exekutieren, die Frauen und Kinder des eigenen Stammes vergewaltigen und Reisende ohne Clanschutz, wie eben mich, ausrauben.

Ironischerweise stranden hier nun Menschen, die vor der Gewalt in ihren eigenen Ländern geflohen sind. Australien ist es in den letzten Jahren gelungen, sämtliche Bootsflüchtlinge, hauptsächlich aus Iran und Afghanistan kommend, noch auf dem Wasser abzufangen und auf See zurückzuschicken. Nur wenn die Boote unmittelbar vom Sinken bedroht sind, werden die Flüchtlinge überhaupt an Bord der Militärschiffe genommen. Sie kommen dann in Einwanderungshaft (eine Haftart, die es so nur in Australien gibt) und werden in ein Internierungslager gebracht. Dieses befindet sich aber nicht in Australien selbst, sondern auf Manus, einer zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel. Durch dieses Vorgehen wird verhindert, dass die Flüchtlinge je australischen Boden betreten. Denn dies würde sie nach internationalem Recht dazu berechtigen, dort Asyl zu beantragen.

Dieses trickreiche Vorgehen ist aber nicht ganz billig für Australien: Jeder der momentan 2000 Flüchtlinge auf Manus hat im Jahr 2015 350 000 Dollar gekostet. Diese Summe kommt durch die schwierige Versorgungslage in Papua und durch die Kosten zustande, mit denen die Regierung von Papua zur Einwilligung in diesen Deal überredet werden musste. Da verwundert es nicht, dass Australien seit geraumer Zeit nach Wegen sucht, um das Lager zu schließen. Die Lösung sollte dazu abermals aus dem Ausland kommen: Man hatte mit dem damaligen USA-Präsidenten Barack Obama angedacht, die Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten anzusiedeln. Unter Trump wird dieses Geschäft wohl nicht mehr zustande kommen. Nun werden die Menschen ihr neues, sicheres und besseres Leben, auf das sie gehofft hatten, in Papua-Neuguinea verbringen müssen, einem Land, das auch infrastrukturell überhaupt nicht für die Integration von Geflüchteten geeignet ist. In Australien firmiert dieses Vorgehen unter der Bezeichnung »The Pacific Solution«. Übersetzt bedeutet das »die Pazifische Lösung«, »die Stille Lösung« - auch im Sinne von geheim - oder auch »die Friedliche Lösung«. Als reine Ironie muss einem dabei die letzte Variante erscheinen.

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