Schneewittchens wahrer Kern

Eine Reise durch die Märchenwelt der Brüder Grimm in Nordhessen

  • Horst Schwartz
  • Lesedauer: 6 Min.

Kinderarbeit, das ist das Thema, das den pensionierten Berufsschullehrer Eckhard Sander aus Borken in Nordhessen seit vielen Jahren umtreibt. Und das kam so: Als das frühere Kupferbergwerk im Bad Wildunger Ortsteil Bergfreiheit 1974 für Besichtigungen freigegeben wurde, war auch Eckhard Sander mit seinen Kindern unter den Besuchern. Sie bekamen einen Schreck, als der Bergwerksführer erzählte, dass früher auch Kinder in dem 1561 gegründeten und wohl schon Ende des 16. Jahrhunderts aufgegebenen Bergwerk schuften mussten. »Das hat mich erschüttert und seitdem nicht mehr losgelassen«, sagt Eckhard Sander.

Im Laufe der Jahre hat der Amateurhistoriker viele Belege für Kinderarbeit in der Region gefunden, das Besucherbergwerk in Bergfreiheit war kein Einzelfall: »Die Kinder sahen in den Erzbergwerken 14 Stunden lang kein Sonnenlicht, arbeiteten liegend in den zum Teil nur 30 Zentimeter hohen, feuchten Schürfgängen und waren schlecht ernährt.« Sie blieben im Wachstum zurück. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, »dass sie im Berg zum Greis wurden«, wie Sander erzählt.

Zum Schutz gegen Steinschlag trugen die Kinder eine Art Zipfelmütze. Wem fielen da nicht sofort die sieben Zwerge aus »Schneewittchen« ein. In dem Märchen, das, wie die anderen auch, die Brüder Grimm ja nicht erfunden haben, sondern das ihnen in verschiedene Fassungen zum Sammeln zugetragen wurde, leben sie in einem Zwergenhaus: »Da stand ein weiß gedeckter Tisch, … und ferner waren an der Wand sieben Bettchen.« An der Wand im Wohn- und Esszimmer und nicht in einem eigenen Schlafzimmer. Das ist genau der Grundriss der Bergmannshäuser, die es in Bergfreiheit gab - und des historischen »Schneewittchenhauses« im Ort.

Apropos: Das Schneewittchen fehlt ja noch auf der Suche nach historischen Quellen zum Märchen. Auch es hat Eckhard Sander gefunden. Der Gründer des Bergwerks in Bergfreiheit war Graf Samuel von Waldeck, der auf Schloss Friedrichsstein in Bad Wildungen residierte. Der hatte eine schon in zeitgenössischen Dokumenten als wunderschön beschriebene Schwester, Margarethe von Waldeck. Mit 16 wurde sie zur standesgemäßen Erziehung nach Brüssel an den Hof von Königin Maria von Ungarn und Böhmen geschickt, Schwester Kaiser Karls V. und dessen Statthalterin in den Niederlanden. »Zieht man eine Linie von Wildungen nach Brüssel, führt diese durch das Siebengebirge - Schneewittchens sieben Berge«, erzählt Eckhard Sander.

Er hat in den Archiven viele Belege gefunden, die vermuten lassen, dass sich zwischen der schönen, blutjungen Margarethe und dem Infanten Philipp von Spanien eine romantische Liebesgeschichte entwickelte. Doch diese konnte am Hof keinen Gefallen finden: Philipp war katholisch, Margarethe protestantisch, er der Sohn des Kaisers, sie eine kleine Gräfin. Zudem hatte der Kaiser seinen Sohn Maria Tudor versprochen, der Tochter Heinrich VIII. Margarethe starb mit nur 21 Jahren, wahrscheinlich wurde sie vergiftet, wie man die zittrige Unterschrift unter ihrem Testament interpretieren kann. Margarethe schrieb: »Mein Gemüt und mein Kopf sind gesund, mein Körper ist blöd.« Die Vermutung der Nachwelt: Arsen!

Nordhessen, die Heimat der Brüder Grimm, ist reich an märchenhaften Orten. Aber nur selten lässt sich der wahre Kern eines Märchens so präzise herausschälen wie bei Schneewittchen. »In der Berglandschaft des Hohen Meißners sind die Märchen und Sagen der Frau Holle noch lebendig«, verrät Annemarie Huck, die seit drei Jahren in Hessisch-Lichtenau und Umgebung die Frau Holle gibt. Sie führt Groß und Klein über den knapp zwei Kilometer langen Frau-Holle-Rundweg, unter anderem in das historische Rathaus. Hier gibt es das 2011 eingerichtete Holleum, eine museumsdidaktisch hervorragende Ausstellung mit den »vier Welten der Frau Holle«: Die Meißnerwelt zeigt die Orte um den Hohen Meißner, über die Frau Holles Sagen berichten; in der Kräuterwelt werden die heilenden Kräuter vorgestellt, mit denen sie in Verbindung gebracht wird; in der Märchenwelt haben die Figuren des bekannten Grimm-Märchens das Sagen; im vierten Bereich beherrscht der wilde, wüste Zug der Frau Holle während der Raunächte, der Nächte um den Jahreswechsel, den Raum. »Frau Holle ist nicht nur Märchenfigur, sondern auch Sagengestalt, Göttin und Riesin«, erklärt Annemarie Huck.

Eine andere Märchenfigur »residiert« in der Sababurg, die sich auch »Dornröschenschloss« nennt. Es ist genau 60 Jahre her, dass die Großeltern des heutigen Pächters Günther Koseck die damalige Schlossruine im Reinhardswald wachgeküsst haben. Heute ist es ein anheimelndes Hotel und beliebtes Ausflugsziel. Wenn das Schloss auch keinerlei direkten Bezug zum Märchen hat, so kann man sich jedoch gut vorstellen, dass Dornröschen in so einem Schloss gelebt und hundert Jahre geschlafen hat. Dabei überlässt der Schlossherr nichts dem Zufall. Er arrangiert Theaterspiele und Auftritte der schönen Königstochter mit ihrem Prinzen beim Dinner. Beliebt sind Dornröschenführungen durch den Schlossgarten. Rosen spielen auch in Kosecks Marketingkonzept eine große Rolle - in beeindruckender Vielfalt im Schlossgarten und in Form von Rosenkonfitüre, Rosenlikör, Rosentee oder Rosenschokolade als Souvenirs. Mit solchen Andenken bis hin zum Rezeptbuch »Grimm’sche Kochereien« macht er zwölf Prozent seines Umsatzes.

Noch viel mehr Märchenhaftes ist in Nordhessen zu entdecken, der Urwald Sababurg beispielsweise mit seinen gewaltigen Eichen, um die sich Legenden ranken. Dieter Usselmann als Ritter Dietrich erweckt sie auf seinen Führungen wieder zum Leben. Oder eine Führung durch Hofgeismar mit Claus Schubert als stolzer Hauptmann der Stadtwache. Durch ihn hören die meisten Urlauber zum ersten Mal von Dorothea Viehmann, die zu einer ganz wichtigen Quelle für die Märchensammlung der Brüder Grimm wurde. Ihr Großvater hatte ihr Märchen aus der Zeit der hugenottischen Einwanderung erzählt. »Sie entwickelte dann«, so Claus Schubert, »die Märchen, die immer einen historischen Kern haben, weiter und verpackte sie in pädagogische Botschaften.« Die Brüder Grimm haben sie dann in ihre Sammlung übernommen.

Die Reise durch das nordhessische Märchenland darf nicht ohne einen Besuch der Grimmwelt in Kassel enden. Architektonisch ein großer Wurf und seit der Eröffnung vor knapp zwei Jahren ein Publikumsmagnet, erschließt dieses Grimm-Museum die Geisteswelt der beiden Sprachforscher, die unermüdlich am Deutschen Wörterbuch gearbeitet haben. Denn ihre Sammlung von Kinder- und Hausmärchen ist nur ein kleiner Teil ihres Lebenswerkes. In der Ausstellung gibt es auch einen wundersamen Spiegel, den jeder fragen kann: »… wer ist die Schönste im ganzen Land?« Die Antwort wird der Besucher sein Leben lang nicht vergessen. Wer wissen will, was er sagt, sollte sich unbedingt selbst einmal auf den Weg ins Grimm-Land machen.

Infos

GrimmHeimat Nordhessen:
Tel.: (0561) 970 622 40
www.nordhessen.de

Übernachtungstipp:
In einem Internetportal sind alle Gastgeber der Region aufgelistet, die ihren Gästen die Gästekarte »MeineCardPlus« schenken. Diese Karte kann nicht gekauft werden. Sie gilt vom Anreisetag bis zum Ende des Abreisetages, ermöglicht freien Eintritt in zahlreiche Freizeiteinrichtungen und Sehenswürdigkeiten und ist zudem das Ticket für die freie Fahrt mit Bussen und Bahnen des nordhessischen Verkehrsverbundes.

www.meinecardplus.nordhessen.de/de/gastgeber-meinecardplus

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