Rote Hoffnung in São Paulo

Die Wohnungslosenbewegung macht mit Besetzungen wie der »Esperança Vermelha« Druck auf die Politik

  • Niklas Franzen, São Paulo
  • Lesedauer: 7 Min.

»Wenn wir ankommen, machen wir keinen Lärm und fangen direkt an, die Zelte aufzubauen. Falls die Polizei auftaucht, laufen wir nicht weg und lassen uns nicht provozieren«, ruft Tuca den rund 200 Menschen zu. Frauen, Männer und Kinder haben sich vor der kleinen Holzbühne versammelt. Mehrere Personen haben sich Matratzen, Decken und Töpfe unter die Arme geklemmt. Es ist eine sternenklare Nacht im äußersten Osten der Millionenstadt São Paulo. In der Ferne bellt ein Hund. Aus einer Bar unweit des Treffpunktes dröhnt brasilianische Country-Musik. Kurz nach Mitternacht geht es los. Die Gruppe wird auf zwei alte Schulbusse aufgeteilt, und einige letzte Gegenstände werden im Gepäckraum verstaut. Mehrere PKWs und Motorräder folgen den Bussen im Konvoi. Wohin es genau geht, weiß niemand so recht. Was alle wissen: Heute Nacht wird es eine neue Besetzung der Bewegung der wohnungslosen Arbeiter (MTST) geben.

Nach rund 30 Minuten Fahrt durch dunkle Gassen der Vorstadt kommt der Bus zum Stehen. »So, jetzt schalten wir alle unsere Handys aus«, lautet die Ansage von vorne. Ein riesiges Feld in einem Tal lässt sich in der Dunkelheit erahnen. Dahinter ein Meer aus Lichtern. Ein vollbeladener Lastwagen wartet bereits am Eingang des Geländes. Schweigend steigen die Aktivisten aus dem Bus, schnappen sich Bambus-Stangen und Planen und fangen an, Zelte auf dem abfallenden Grasland aufzubauen. Nach nicht einmal einer halben Stunde steht das Camp. An mehreren Stellen hissen die Aktivisten symbolisch die rote Fahne der Bewegung.

Die erste Versammlung findet am Eingang des besetzten Gebietes statt. »Wir sind die Mütter und Väter dieser neuen Besetzung. Darauf können wir stolz sein. Die heutige Besetzung ist eine Demonstration unserer Stärke. Wir werden weitermachen und uns unsere Rechte erkämpfen«, ruft Maria, die Koordinatorin der Bewegung, den Anwesenden zu. Applaus und Jubel. Hochgereckte Fäuste. »Besetzen, widersetzen und hier wohnen«, rufen die Aktivisten. Die Besetzung wird auf den Namen »Esperança Vermelha« (Rote Hoffnung) getauft. Die Versammlung endet mit einem Gebet.

Wie im Falle der Besetzer der »Esperança Vermelha« leisten arme Bewohner in São Paulo Widerstand gegen Ausgrenzung und Segregation. Ende der 1980er Jahre bildete sich im Zuge der Demokratisierung Brasiliens eine urbane Reformbewegung. Favela-Organisationen, Bürgerrechtsgruppen und Nichtregierungsorganisationen kämpften damals gemeinsam für die Veränderungen in den Städten - mit Erfolg. Viele Forderungen der Aktivisten wurden in die Verfassung von 1988 aufgenommen. So legen Artikel 182 und 183 soziale Grundsätze der Stadt fest: Häuser und Freiflächen müssen demnach eine soziale Funktion erfüllen. Auch bietet sie wichtige Ansätze zur Legalisierung von informellen Siedlungen. Eigentümer können enteignet werden, wenn die soziale Funktion nicht gegeben ist. Mit dem 2001 verabschiedeten Stadtstatut-Gesetz bekam die Verfassung, zumindest theoretisch, Gültigkeit. Anspruch und Wirklichkeit klaffen allerdings weit auseinander. Die Verbindungen zwischen Justiz, Investoren und Immobilienspekulanten sind ein offenes Geheimnis. Auch Raquel Rolnik, Urbanistin und ehemalige UN-Sonderbeobachterin für das Recht auf angemessenes Wohnen, erklärt dem »nd«: »Die juristischen Instrumente, die in der Verfassung und im Recht verankert sind, werden in der Praxis einfach nicht angewendet.«

Die extreme soziale Ungleichheit ist charakteristisch für São Paulo. Während im Zentrum der Megalopolis moderne Bürotürme, Einkaufszentren und bewachte Wohnanlagen das Stadtbild bestimmen, leben Millionen von Menschen in den sozial benachteiligten Randbezirken. Trotz staatlichen Wohnungsbauprogrammen wie dem 2009 lancierten Minha Casa, Minha Vida (Mein Haus, mein Leben), ist die Wohnungsnot in der Stadt riesig: Laut Statistiken haben rund 700 000 Menschen im Großraum São Paulo keine Wohnung - Tendenz steigend. Demgegenüber stehen 400 000 Wohneinheiten leer, oft als Spekulationsobjekte.

Anfang der 1990er Jahre entstanden die ersten Wohnungslosenbewegungen in der größten Stadt der Südhalbkugel. Arme Familien, vor allem Migranten aus anderen Bundesstaaten, schlossen sich zusammen und versuchten durch Besetzungen urbanen Leerstand für sich nutzbar zu machen. Die stetig wachsende Wohnungsnot in der Megacity sorgte auch in den vergangenen Jahren für einen Zulauf zu den Bewegungen. Heute sind mehr als 90 Gebäude in São Paulo dauerhaft besetzt, ein Großteil davon in der Innenstadt. Doch auch am Stadtrand leisten Bewegungen Widerstand, unter anderem die MTST. Diese wurde Mitte der 2000er Jahre gegründet, nachdem sie sich von der Landlosenbewegung MST gelöst hatte. Heute ist sie die größte Wohnungslosenbewegung des Landes und gilt als einer der wichtigsten linken Player in Brasilien. Die Bewegung kämpft nicht nur für würdige Wohnungen, sondern versteht sich als breite soziale Bewegung - und als Stimme der Armen. Die MTST führte viele Demonstrationen gegen das umstrittene Amtsenthebungsverfahren der sozialdemokratischen Präsidentin Dilma Rousseff an. In den vergangenen Monaten richtete sich ihr Kampf insbesondere gegen die Austeritätspolitik des rechten Präsidenten Michel Temer. Seine Regierung ist im Begriff, durch fragwürdige Renten- und Arbeitsreformen den Sozialstaat abzubauen.

Während andere Bewegungen in der Innenstadt Häuser besetzen, agiert die MTST in den Randgebieten der Millionenstadt. »Wir wollen dort aktiv sein, wo die armen Menschen wohnen - nämlich vor allem in der Peripherie«, erklärt Josue Rocha, Koordinator der Bewegung. Aufwertungsprozesse und Immobilienspekulation machen auch vor den Randbezirken nicht halt und führen zu stetig steigenden Mieten. Die bittere Konsequenz: Immer mehr Menschen landen auf der Straße. Für tausende Familien bleibt die Teilnahme an einer Besetzung die einzige Alternative.

Das Gelände der »Besetzung Rote Hoffnung« ist offiziell eine sogenannte ZEIS - »Zone von speziellem sozialem Interesse« - und für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen. Bislang ist allerdings nichts passiert und das Feld steht seit mehreren Jahren leer. »Die Besetzung heute ist eine Anklage und eine Forderung, dass endlich die soziale Funktion des Geländes erfüllt wird. Es werden keine Gesetze gebrochen. Im Gegenteil, der Staat wird daran erinnert, endlich Gesetze zu erfüllen«, erklärt der junge Anwalt Ramon, der die MTST vertritt.

Erst im Morgengrauen wird das Ausmaß des Geländes deutlich. Ein grünes Tal erstreckt sich unterhalb eines Hügels. Dahinter roter Backstein und Wellblech soweit das Auge reicht. Einige Kühe weiden in der Ferne. Zum Frühstück gibt es Kaffee und süßes Brot. Zwei Aktivistinnen in roten T-Shirts, die die Besetzung über Nacht bewacht haben, sitzen verschlafen auf einem Steinblock am Eingang. Noch im Morgennebel beginnen die Besetzer damit, immer weitere Teile des Geländes zu erschließen und Zelte aufzubauen.

»Es ist eine Schande, dass so viele Gebäude und Flächen leer stehen und wir kein Dach über den Kopf haben«, schimpft Simone, die sich zusammen mit ihren beiden Söhnen in einem Zelt eingerichtet hat. »Ich fühle mich als Gewinnerin. Die Bewegung hat mir geholfen, viel mehr zu erreichen, als ich jemals hätte alleine schaffen können«, erzählt die Aktivistin mit den langen, schwarzen Dreadlocks.

In der Mitte des Feldes errichten die Wohnungslosen ein Holzgerüst. »Das wird mal die Hauptküche«, erklärt Nego, während er auf einem Holzbalken sitzend einen Nagel in das Gerüst hämmert. Die Sonne knallt mittlerweile unbarmherzig auf die schwitzenden Körper. Immer mehr Familien aus den umliegenden Vierteln kommen im Laufe des Tages an und schlagen ihre Zelte auf. So auch der 25-jährige Franklin, der unterhalb des Geländes mit Frau und Sohn in einer selbstgebauten Hütte wohnt. »Ich habe gehört, dass hier eine Besetzung stattfindet - deshalb bin ich hergekommen«, sagt der junge Mann mit den blond gefärbten Haaren und der blauen Sportbrille. Nicht nur die Strom- und Wasserversorgung in seinem Viertel ist mangelhaft. »Wir überleben eher, als dass wir leben. Deshalb will ich Teil der Bewegung werden und mir eine würdige Unterkunft erkämpfen.« Die Polizei erscheint erst am späten Mittag und zieht nach einer kurzen Verhandlung wieder ab.

Angesichts der massiven Wohnungskrise in der Stadt wirkt die Besetzung wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Jedoch ist die »Rote Hoffnung« auch ein Symbol - dafür, dass eine andere Stadt möglich ist.

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