Ach, könnte man die Schmerzen heilen

J.M.G. Le Clezio: »Sturm« - zwei Novellen, in denen klare Mädchenstimmen singen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Er schreibt auf Französisch, doch ist alles andere als sesshaft. Einen literarischen Nomaden könnte man ihn nennen, dem Fernweh mit der Sehnsucht nach etwas Unmöglichem verschmilzt. Immer auf der Suche nach einer Verklärung, die er für Momente in großen Naturbeschreibungen finden und festhalten kann. Immer auf einer Suche, für die es letztlich keinen Ort auf Erden gibt.

Wovor ist er auf der Flucht? Der Journalist Philip Kyo aus der Titelerzählung des Bandes weiß es für seine Person. Während des Koreakrieges ist er stummer Zeuge einer Vergewaltigung geworden und hatte der Frau nicht geholfen. Immerhin hatte er dafür im Gefängnis gesessen. Und als er seiner Geliebten Mary auf der koreanischen Insel Udo schließlich davon erzählte, verließ sie ihn ohne ein Wort. Sie schwamm hinaus aufs Meer und kam nicht mehr zurück. Weil er ihr plötzlich zuwider war? Weil sie womöglich selbst einem solchen Gewaltakt entstammte?

Dass wir so vieles nicht wissen, gibt dem Text seinen Reiz. Auch die 13-jährige June, der Philip Kyo bei seiner Rückkehr auf die Insel, viele Jahre später, begegnet, ist ohne Vater aufgewachsen. Wie anrührend vermag Le Clézio, die Beziehung zwischen dem sechzigjährigen Mann und dem Mädchen zu beschreiben. Etwas ganz nahe an Verbotenem, aber so klar und rein.

June ist wie ein Engel für den alternden Mann, bereit, ihn zu stützen, ihm zu helfen. Doch wie lange kann das gut gehen? In der Menschenwelt glaubt man den Engeln nicht. Und wer sich von Teuflischem befallen meint, sollte aus Rücksicht schnell Abstand gewinnen.

Ach, könnte man die Schmerzen heilen. Le Clezio, Nobelpreisträger von 2008, vermag es, etwas in sanfter Andeutung zu halten und in der Realität etwas Geheimnisvolles mitschwingen zu lassen. Dass etwas schicksalhaft vorbestimmt ist schon mit der Geburt, er will uns in solcher Ahnung bestätigen, indem er von jungen Frauen erzählt, die ohne sichere Mutter-Vater-Bindung es schwer haben, sich selbst zu finden.

Auch Rachel aus der zweiten Novelle scheint aus einer Vergewaltigung hervorgegangen und kämpft die ganze Zeit dagegen an, dass jemand sie zum Opfer macht. Sie wehrt sich, lässt sich Stacheln wachsen. Und als sie mit ihren Pflegeeltern aus dem geliebten Afrika weg nach Frankreich ziehen muss, wird es für sie noch schlimmer. »Eine Frau ohne Identität«: Wie der Autor diese Novelle ganz dem Ich Rachels anvertraut, mangelt es an anderen Sichten, die die Vorgänge plastischer hätten machen können. Und das »glückliche Ende«, das wir der jungen Frau wohl gönnen, erscheint als Konstrukt.

Absolut glaubhaft hingegen, wie June nach Mr. Kyos Verschwinden gleichsam zur Mutter ihrer Mutter wird. So können sich die Rollen vertauschen, und es kann ein ungeahnter Aufbruch sein.

J.M.G. Le Clezio: Sturm. Zwei Novellen. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch, 239 S., geb., 20 €.

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