Petrograd an der Spree

Vladimir Nabokovs Hassliebe zu Berlin

  • Esteban Engel
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist schon ein seltsamer Zufall, dass an der Adresse von Vladimir Nabokovs (1899-1977) letztem Wohnhaus in Berlin »Die kleine Weltlaterne« untergekommen ist. In der Nestorstraße 22 in Wilmersdorf lebte der Schriftsteller fünf seiner 15 Berliner Jahre, bevor er 1937 der Stadt den Rücken kehrte und über Paris in die USA ging. Die Laterne am legendären Nachtlokal wirft heute ein fahles Licht auf die Gedenktafel, die an der Fassade an Nabokov erinnert. Für eine solche Heimeligkeit hätte der Autor des Klassikers »Lolita« (1955) nicht viel übrig gehabt.

Nabokov war im Spätsommer 1922 in die Stadt gekommen, aus tragischem Anlass. Sein Vater V. D. Nabokov, Jurist und bis zur Oktober-Revolution Abgeordneter der Liberalen, war im März bei einem Anschlag in der Berliner Philharmonie getötet worden. Ein Anhänger des Zaren hatte ihn bei einem Treffen von Exilrussen erschossen. Heute liegt V. D. Nabokov auf dem russischen Friedhof in Tegel. Sohn Vladimir, der damals in Cambridge studierte, zog nach Berlin, um der Mutter beizustehen. Wirklich heimisch wurde Nabokov aber in der Stadt nie - und doch blieb er 15 Jahre. Die Stadt diente ihm als Inspirationsquelle. In Berlin lernte er seine spätere Frau Vera Slonim kennen, sein Sohn Dmitri wurde hier geboren.

Tatsächlich konnte Nabokov in die russische Gemeinschaft eintauchen. Die Vier-Millionen-Me᠆tropole war Zentrum des russischen Exils. Rund 350 000 Russen, die vor den Bolschewiki geflohen waren, hatten sich in der Stadt niedergelassen, Vereine, Clubs und Verlage gegründet.

Eines der Zentren dieses »Pe᠆trograd an der Spree« war der Wittenbergplatz. An der Bayreuther Straße links am Platz öffnete 1921 die Buchhandlung des Verlags Slovo, in dem die ersten Bücher Nabokovs erschienen. Schräg gegenüber vom KaDeWe lag das russische »Restoran-Kafe Passauer«, ein paar Hundert Meter weiter der Kurfürstendamm, Nabokovs Revier.

Mit Deutschen hat Nabokov wenig Kontakt, er mag sie nicht wirklich, hat aber deswegen auch ein schlechtes Gewissen. »Die Überzeugung der Russen, dass die Deutschen in kleinen Mengen vulgär, in großen unerträglich vulgär seien, war, das wusste er genau, eine Überzeugung, die eines Künstlers unwürdig war; und dennoch...«, schreibt er für eine geplante Fortsetzung seines Romans »Die Gabe«. Später wird er dieses harsche Urteil revidieren.

Auch nachdem im Januar 1933 Adolf Hitler an die Macht gekommen ist, bleiben Nabokov und seine Familie in Berlin. Er findet Deutschland zwar »bedrückend wie einen Kopfschmerz«, hasst die Nazis und beschreibt Hitlers Stimme als »bestialisches Gebrüll« und »frenetischen Redeschwall«. Nabokovs Versuche, in Frankreich oder in England Arbeit zu bekommen, schlagen immer wieder fehl. Doch dann verliert Vera ihre Stelle. Im April 1937 zieht die Familie aus der Wohnung in der Nestorstraße, am 6. Mai reist sie in Richtung Prag aus. Nach Deutschland kehrt Vladimir Nabokov nie wieder zurück. dpa/nd

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