Die Freiheit der Narren

Benefizlesung für die Bahnhofsmission Zoo: Volker Braun und Gisela Oechelhaeuser

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Goldklunkerladen, so sagt der Mann am Mikrofon, und ein Pennerladen seien zu einem starken Team geworden. Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission Berlin-Zoo, spricht über die Arbeit mit Obdachlosen, Bedürftigen, erzählt aufheiternd frei vom Schmutz, vom Leid, vom Bedarf nach »frischen Schlüppern«, vom Wert jedes gespendeten Euro. Unweit der Mission, in der Hardenbergstraße, befindet sich die Firma »pro aurum - Edelmetalle, Münzen, Barren«. Ein Anlageort für Werttraditionalisten und zunehmend auch Skeptiker, die den gesellschaftlichen oder bankgesteuerten Vorsorgen nicht mehr trauen. So sagt es Waldemar Meyer, der das Kultursponsering der Firma leitet. »pro aurum« gehört seit einigen Jahren zu den festen, kräftigen Unterstützern der Bahnhofsmission. Im Pfefferberg-Theater am Berliner Senefelder Platz fand nun die »V. pro aurum Sommernachtslesung« statt, eine Benefizveranstaltung, diesmal mit Texten von Volker Braun, gelesen vom Dichter und der Kabarettistin Gisela Oechelhaeuser. Im Anschluss gab es eine Gesprächsrunde, moderiert von Gregor Gysi.

Braun las aus dem Roman »Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer«, aus der Erzählung »Die hellen Haufen« sowie Gedichte aus dem Band »Handbibliothek der Unbehausten«, Gisela Oechelhaeuser trug Miniaturen des Bandes »Flickwerk« vor. In »Die hellen Haufen« verwandelt Braun den vergeblichen Arbeitskampf der Kalikumpel von Bischofferode - lange her - in eine dichterische Fantasie des tätigen Zorns. Der nämlich auch andere Betriebe, bis nach Mansfeld und Leuna hinüber, ja ganz Mitteldeutschland zu einer so nie gesehenen Landschaft formt: Der Zug der Zeit, das sind plötzlich und berauschend die von überall herströmenden Züge der Tausenden, die den westlichen Kolonisatoren das Treuhandwerk legen werden. Arbeiter: klasse! Ein Kriegszug für den Frieden, der Arbeit heißt; künftige Grundgesetze, die Mansfelder Gebote: »Nicht den Gewinn maximieren, sondern den Sinn! Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Grundentscheidungen! Die Arbeit ist gerecht zu verteilen, unter allen, die Anspruch haben!« Eine Utopie.

Der Dichter, man sah und spürte es, liest seine Werke gern. Der Ton noch im Blick auf den doch längst dingfest, buchfest gemachten Text: zögerlich, suchend - diesem Autor sind, auch später dann im Gespräch, Schlüssigkeit und Präzision wichtiger als Schlagfertigkeit. Braun schlägt Denkwege ins Unfertige ein - da geht und spricht man vorsichtig, um die Bodenhaftung ans Ungeschütztsein nicht zu verlieren. Sympathisch, fast aufsässig scheu sitzt er da; mit tiefem Willen zum hieb- und stichfesten Ernst. Er reißt Sprache stoßweise an, schlägt die Bögen in weichem Sächsisch, eine Hand dirigiert, die Gesichtszüge dirigieren auch. Wenn er antwortet, dann will er, und zugleich will er auch nicht. Der so Aufrührerische: nervös berührt von Öffentlichkeit. Der Feine, aber robust wie ein Bagger, wenn er schreibt. Sein Mut steht auf dem Papier, dessen Geduld seine Lebensrettung ist.

Gisela Oechelhaeuser interpretiert professionell gestuft, sie schmeckt ab, dramaturgisch geschult in Steigerungsmöglichkeiten. Die Lebendigkeit ihrer Kunst erwächst ja stets aus der Art, wie sie alles Material im Herzen sofort verfeuert und in eigene Frage-Materie umsetzt. Sie liest Braun, wie sie ihre eigenen Programme spielt: Pointen unbedingt, aber man spürt den Drang, nicht in einer Leichtigkeit aufzugehen, die ablenkt von den Wirbel- und Strudelzonen. Braun und Oechelhaeuser sind einander nah in einem wesentlichen Punkt: Sie verstehen sich als Problematiker, Braun hat es so ausgedrückt: Ihn treiben die »probleme der gesellschaft mit den individuen, nicht nur der individuen mit der gesellschaft«; er geht den Grund-Rissen im gesellschaftlichen Bau nach (»mich interessiert der eine fehler, der den bau zertrümmert«).

Das ist auch das Thema der anschließenden, aufreizend ratlosen Runde. Gysi, Oechelhaeuser, Meyer, Braun sind sich einig: Die sozialen Ängste dringen schon in den Mutterleib, setzen sich fort in jede Lebensphase - wo wäre endlich anzusetzen, um aus wachsender Lethargie Widerstand zu formen? Wer ist der Feind, den man angreifen kann? An Strukturen entzündet sich nichts. Keine wirklichen Antworten werden gegeben, die Parteien werden mit einem Abwinken bedacht, zumindest gibt es an diesem Abend keine Phrasen - da die Mittelpunktsgestalt ein Dichter ist. Es gehört zu Brauns poetischem Prinzip, Fragen laut und offen zu stellen, doch sie ebenso laut offen zu lassen. Helle Haufen, also Menschen, die helle sind, indem sie aufbegehren, »hell vor Lust«, wie Braun sagt - bleibt so etwas also nur ein poetischer Möglichkeitsfleck in der Schwarzmalerei Zukunft?

Beharrlich beschwört Braun die Hoffnung, die am Boden ist, aber immerhin: ganz unten, dort, wo sie hingehört. Wie die Literatur. »Sie hat keine andere Wahl als den Blick von unten.« Hinter der Ohnmacht dünnster Stelle reibt sie sich an einer Angst, die überwunden werden könnte. Überwunden wann? Jetzt, nie, morgen. Zorniges, zerrissenes, zündendes Schreiben als Vorgefühl einer Zeit (wie es Braun einst in Erinnerung an Stephan Hermlin schrieb), da »die Waffen wieder Steine sein« werden, »und die Vernunft wird Worte brauchen«. Steine? Gisela Oechelhaeuser zeigt Verständnis für alle Formen des Zorns. Also auch Gewalt? Widerspruch im Publikum.

Zum Schluss fragt Gysi nach Erwartungen in die gesellschaftliche Linke. Gisela Oechelhaeuser bedauert, dass viele linke Gedanken »zwar richtig sein mögen, aber leider zu selten ansteckend« geäußert werden. Noch einmal spricht Volker Braun die Zukunft an. Die sei »ein unbesetztes Gebiet«, Literatur möge helfen, dieses Gebiet mit wacher Neugier zu betreten. Neugier trotz jener Not, die im vorauseilenden Gehorsam der Regierungen gegenüber dem Kapital bestehe. Aber die meisten Momente des Menschen seien eh »Momente des Vertuns«. Es sei tragisch, dass Geschichte stets aus so vielen Handlungssträngen bestünde, »die nicht produktiv zusammenkommen«. Unser Vertagen und Verschleppen, das hauptsächlich sei »Geschichte bei der Arbeit«. Irgendwann stelle sie die Quittung aus.

Die Narren haben es diesem Dichter Braun angetan. Für ihn ist die Narrenfreiheit das Elend jener Leute, die ausgelacht werden, weil sie trotz allem ganz im Ernst an das lächerlich Gewordene glauben: Würde, Arbeit, Zukunft, Demokratie. Ein unentbehrlicher Glaube. Denn immer bleibt der Geschichte doch auch jenes Überraschende eingeschrieben, auf das ebenso Verlass sei wie auf das Versäumte. »Das Unerwartete tritt eisern ein.« Der Büchner-Preisträger hatte auch sein Gedicht über die »Inbesitznahme der großen Rolltreppe durch die Medelliner Slumbewohner am 27. Dezember 2011« gelesen, dessen letzte Worte den weit ausgreifenden Erfindungsreichtum preisen, Konstruktionen also, »um das Elend zu versenken/ Fantastische Aufstände, Niederwerfungen/ Allen Unrechts.«

Volker Braun hatte Postkarten mitgebracht: darauf gedruckt die Mansfelder Gebote aus seiner Erzählung »Die hellen Haufen«. Waldemar Meyer von »pro aurum« bot ebenfalls Papier an: den obligaten Allerwelts-Fragebogen - fürs »Feedback« auf die Veranstaltung. Welches Blatt wird an diesem Abend wohl wirksamer in Umlauf gekommen sein?

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