Eine Art Überlebenswille

Emilia Smechowski beschreibt die Turbointegration polnischer Einwanderer: «Wir Strebermigranten»

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Kaum jemand weiß es: In den 1980er und 1990er Jahren kamen 800 000 Polen nach Deutschland. Heute sind es über zwei Millionen, die hier leben - die größte Migrantengruppe nach der aus der Türkei. Aber die polnischen Migranten fallen aufgrund ihres Aussehens und ihrer Kultur kaum auf. Und sie haben sich, zumindest die, die in den 1980er und 1990er Jahren kamen, besonders schnell in die deutsche Mehrheitsgesellschaft integriert.

Die Journalistin und Autorin Emilia Smechowski ist eine von ihnen. 1988, im Alter von fünf Jahren, kam sie mit ihrer Familie nach Westberlin. Im Laufschritt lernten ihre Eltern Deutsch, erhielten als Ärzte ihre Approbation und konnten sich bald ein eigenes Haus bauen. Alles in der Familie war darauf ausgerichtet, Polen hinter sich zu lassen. Der Familienname wurde von Śmiechowski zu Smechowski, der Vorname von Emilka Elżbieta zu Emilia Elisabeth. Als es dann, wegen des Großvaters, der im Zweiten Weltkrieg die «Deutsche Volksliste» unterschrieben und in der Wehrmacht gekämpft hatte, sehr schnell auch eine neue Staatsbürgerschaft gab, stand als Geburtsort statt «Wejherowo» plötzlich «Neustadt in Westpreußen» in Emilia Smechowskis neuem Pass. Wo das sein sollte, war ihr damals völlig schleierhaft.

Smechowski beschreibt die Turbointegration polnischen Migranten beispielhaft anhand ihrer Familie. «Wir sind die Wirklichkeit gewordene Phantasie eines rechtskonservativen Politikers, dem zufolge Einwanderer sich der neuen Gesellschaft anpassen müssen, die ihrerseits aber bleibt wie zuvor.» Die fünfjährige Emilia durfte in der Öffentlichkeit von einem Tag auf den anderen kein Polnisch mehr sprechen. Das «Psst!» sollte zu einem Grundrauschen unserer ersten Monate in Deutschland werden«. Gefragt wurden sie und ihre Schwester nicht. Es war einfach so, dass sie nun keine Polen mehr waren, sondern Deutsche. Und Deutsche sprachen eben Deutsch. Gleichzeitig mussten die Kinder in der Schule immer besser sein als ihre Mitschüler. Eine zwei im Zeugnis war da schon eine kleine Katastrophe.

Smechowski ist mit 16 zu Hause ausgezogen. Sie will Sängerin werden, singt Solos im Kirchenchor und nimmt Gesangsunterricht. Aber all der Druck, das Üben, das Arbeiten neben der Schule, um auch finanziell unabhängig zu sein, all das macht sie den Eltern auch immer ähnlicher. »Ich ahne, dass mich etwas Ähnliches geritten haben muss wie meine Eltern, kurz nachdem sie Polen verlassen hatten. Die Anspannung, der Tunnelblick. Eine Art Überlebenswille.«

»Wir Strebermigranten« beleuchtet ein Kapitel der deutschen Einwanderungsgeschichte, das wenig bekannt ist. Manchmal wiederholt die Autorin zu oft, was der Leser längst verstanden hat, wie die enorme Anpassungs- und Leistungsfähigkeit der polnischen Migranten. Und es gibt auch keine wirklichen Brüche in ihrer Lebensbeschreibung, nichts, was sie nicht schnell wieder in den Griff bekommen hätte. Am Ende ist Smechowski nicht nur mit den Eltern versöhnt, sondern schreibt - mit dem ersehnten Einverständnis des Vaters - auch noch ein Buch über sie. Lesenswert ist es trotzdem, denn Smechowski vermittelt dem Leser anschaulich, wie hart der Weg in ein neues Leben in Deutschland ist. Und selbst wenn sich die Polen in Deutschland heute nicht mehr so verbergen: »Wir Strebermigranten« gibt ihnen eine Stimme, vermittelt den Mut zu einer multikulturellen Identität im multikulturellen Deutschland.

Emilia Smechowski: Wir Strebermigranten. Hanser Berlin, 224 S., geb., 22 €.

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