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Ihr dürft mich ruhig beneiden

Warum immer in die Ferne? Die Welt liegt um die Ecke: Radeln zum Stechlin. Von Heidi Diehl

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.

Bin schnorcheln im Great Barrier Reef«, postete kürzlich eine Facebook-»Freundin« nebst einem neiderweckenden Foto. Eine andere teilte der Welt mit, dass sie in Paris fürstlich gespeist habe, den optischen Beweis inklusive. Und die Dritte ließ wissen, dass sie gerade eincheckt habe, um auf die Seychellen zu fliegen. Wow! Und ich? Womit kann ich meine Weltläufigkeit dokumentieren? Denn während gefühlt alle anderen die große weite Welt entdecken, sitze ich seit zwei Tagen im Sattel und radle durchs Ruppiner Seenland, nur eine Stunde von Berlin entfernt. Wer lässt sich davon schon beeindrucken?

Versuchen wir’s einfach: Noch einmal will der Sommer zeigen, dass er auch schön sein kann, als wir in Gransee den Regionalzug verlassen, um in Richtung Stechlin loszuradeln. Der zumindest hat es - Fontane sei dank - zu Weltruhm gebracht. Doch zunächst führt der Weg durchs flache, fast menschenleere Land. Nichts los hier außer Natur satt und unter den Rädern Geschichte pur. Denn der Stechlinsee-Radweg führt zu großen Teilen durch das Gleisbett der ehemaligen Stechlinseebahn. Seit diesem Frühjahr ist der Umbau der 26 Kilometer langen Strecke zwischen Gransee und dem klarsten See Norddeutschlands abgeschlossen. Rechts und links des sehr gut befahrbaren Weges erinnern alte Kilometersteine, Schwellen und Infotafeln an die Bahn, die von 1930 bis 1969 vor allem Ausflügler an den Stechlin brachte.

Etwa auf halber Strecke, am Ortsausgang von Wolfsruh, kommt man an einem einsamen Gehöft vorbei. Oder besser gesagt, man kommt nicht vorbei, denn allein schon der Name macht neugierig: »Augenweide«. Also runter vom Sattel und schauen, was es hier zu entdecken gibt. Zunächst ein Paar, das mit offenen Armen auf die Besucher zukommt - Brigitte und Rainer Lux, die sich mitten im Nirgendwo ein Refugium erschaffen haben, das einen das Staunen lehrt. Wo immer man hinschaut, entdeckt man lustige Keramikfiguren aus der Werkstatt von Brigitte, deren Beruf und Berufung die künstlerische Arbeit mit Ton ist. Was sie mit viel Witz und Augenzwinkern formt, bekommt seine Bühne in dem rund 1,2 Hektar großen Landschaftsgarten, dessen Gestaltung vor allem Rainers Spielwiese ist: Katzen, Eulen, Gnome, Vögel und vielerlei Anderes kreucht und fleucht zwischen Koniferen und Bäumen und macht das Grundstück zur »Augenweide«. Mittendrin ein zwei Kilometer langes Wiesenlabyrinth. Ein wirklicher Garten Eden! Wer will, kann im Werkshof Wolfsruh, wie der Hof offiziell etwas sperrig heißt, auch länger bleiben, denn ein Ferienhaus gibt es auch, und regelmäßig bietet Brigitte Töpferkurse an.

»Verweile doch«, ruft meine innere Stimme, doch dann lockt der »Ruf der Wildnis«. Wir satteln unsere Drahtesel, fahren vorbei an abgeernteten Feldern und durch eine Allee von Mirabellenbäumen. »Rüttelt mich, schüttelt mich«, scheinen sie zu rufen. Das lassen wir dann aber doch lieber sein, denn es würde einen regelrechten Mirabellen-Hagelsturm auslösen, so voll hängen die Bäume. Und außerdem ist das gar nicht nötig, die sattgelben Früchte wachsen einem ja förmlich in den Mund. Man muss nur zulangen, was wir auch kräftig tun, bevor wir weiterradeln. Weit kommen wir nicht, denn schon wieder lockt da ein Schild, dessen Sinn es zu erkunden gilt - Café Bric a Brac. Das ist Französisch und bedeutet so viel wie Krimskrams oder Sammelsurium, erfahren wir von Jan Koch, der das charmante Bistro zusammen mit seiner französischen Frau Aurore seit vier Jahren am Ortsrand von Menz betreibt. Der Liedermacher und die Lehrerin, die dem Moloch Berlin entflohen, damit ihre Kinder in ländlicher Idylle aufwachsen können, verwandelten eine alte Scheune neben dem Wohnhaus in das gemütliche Café, als sie immer wieder von Radlern gefragt wurden, wo man etwas essen und trinken könne. Inzwischen fühlen sich im Bric a Brac Ausflügler genau so wohl wie die Einheimischen und ein bisschen wie in Frankreich. Gibt der Hausherr dann noch ein Konzert mit eigenen Liedern, umso mehr.

Singen ist nicht unbedingt die Stärke von Jörg Sprößig, dafür kennt er sich wie kein zweiter in den Wäldern der Region aus. 42 Jahre war er hier Revierförster, nun geht er in den verdienten Unruhestand. An seinem offiziell letzten Arbeitstag begleitet er uns auf dem zwölf Kilometer langen Moorerlebnispfad im Naturpark Stechlin-Ruppiner Land, der maßgeblich von ihm mit initiiert wurde. Sprößig weiß alles über die Bedeutung der Moore und deren Flora und Fauna, kann unendliche Geschichten darüber erzählen. An fünf Stationen mitten im Moor, von denen eine sogar mit dem Rollstuhl erreichbar ist, erfahren wir allerhand über die verschiedenen Moortypen und ihre Bedeutung für das empfindliche Ökosystem. An manchen Stellen ist es beinahe unheimlich still und verwunschen, so dass man fast glauben möchte, die vielen Märchen und Geschichten, die man sich übers Moor erzählt, seien allesamt wahr. Wer noch mehr davon hören und auf ihren Wahrheitsgehalt testen will, ist im Naturparkhaus in Menz bestens aufgehoben.

Wir aber radeln weiter, noch fünf Kilometer und Neuglobsow, der einzige Ort direkt am Stechlinsee, ist erreicht. Doch bevor wir uns der Schönheit des Sees hingeben und uns selbst davon überzeugen, dass er wirklich so klar ist wie behauptet, machen wir einen letzten Abstecher ins »Glasmacherhaus«, wo man die Geschichte der Glasherstellung nacherleben kann, ohne die es den Ort gar nicht gäbe. Holz und Quarzsand, die beiden wichtigsten Grundstoffe für Glas, gab es hier in großen Mengen, und so entstanden in der Region im 18. Jahrhundert zahlreiche Glashütten. Mit dem Ergebnis, dass Ende des Jahrhunderts die Wälder fast abgeholzt waren und 1790 das Heizen der Schmelzöfen mit Holz verboten wurde. Es wurde durch Torf aus den Mooren ersetzt. Bis 1890 war Neuglobsow eine Hochburg der Glasmacherei, dann schloss die letzte Hütte, und die ganze Region verfiel in eine Art Dörnröschenschlaf und gleichsam in Armut. Bis Theodor Fontane den Landstrich bei seinen Wanderungen durch die Mark entdeckte. 1873 war er das erste Mal hier, 1897 erschien der Vorabdruck seines berühmt gewordenen Buches »Der Stechlin«, das die Berliner schon bald in Scharen in die Region lockte, um den sagenumwobenen See mit eigenen Augen zu sehen. Seitdem lebt Neuglobsow vom Tourismus.

Auch für uns gibt es nun kein Halten mehr - wir wollen endlich zum See. Ganz still liegt er in der Spätsommersonne, die letzten Mutigen steigen ins Wasser. Wir »Weicheier« aber leihen uns lieber ein Kanu und paddeln hinaus. Tatsächlich: Metertief kann man hinabschauen und sogar Fische umherschwimmen sehen. Später werden wir uns am gegenüberliegenden Ufer in der einzigen Fischerei eine Auswahl davon schmecken lassen, unter anderem Maränen, die nur dort leben, wo das Wasser besonders sauber ist. Die Fischer hier hießen immer Böttcher, gaben das Handwerk seit sieben Generationen stets vom Vater auf den Sohn weiter. Drei Generationen leben und arbeiten derzeit auf dem Hof - Adolf (83), Rainer (55) und der 29-jährige Martin, der gerade seine Meisterausbildung beendet hat.

Der Tag war lang, Zeit, das Gut Boltenhof anzusteuern, wo uns Hausherr Jan Uwe Riest schon erwartet. Zum Abendessen genießen wir gemeinsam mit anderen Urlaubern ein knuspriges Wildschwein, das zuvor stundenlang über der Glut seine Runden gedreht hat, einen hervorragenden Biowein und die absolute Stille am »Arsch der Welt«. Wahrscheinlich würde jetzt keiner diese Idylle mit dem Great Barrier Reef, Paris oder den Seychellen tauschen wollen.

Vor dem Schlafengehen poste ich ein Foto von Hunderten Gänsen, das ich aufnahm, als sie im Sonnenuntergang, begleitet von »Gänseliesel« Lilla, von der Weide zurück in ihren Stall watschelten und schreibe dazu: »Hier gibt es nichts außer Ruhe und Natur«. Die Reaktionen kommen prompt, und eine Facebookfreundin schreibt begeistert: »Endlich mal ein wirklich guter Tipp!« Na bitte: Ihr dürft mich ruhig beneiden!

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