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  • Repression in der Türkei

Erdogans Elite bittet in Deutschland um Asyl

Seit dem Putschversuch suchen Beamte, Richter oder Ärzte hierzulande Schutz - in der Türkei droht ihnen die Inhaftierung

  • Yuriko Wahl-Immel, Köln
  • Lesedauer: 4 Min.

Cem war in der Türkei Beamter, hatte eine Elite-Hochschule absolviert, lebte gut situiert und sorglos mit seiner ebenfalls studierten Ehefrau bei Istanbul. Jetzt fängt er bei null an in Deutschland, ist geflüchtet, hat Asyl erhalten und baut sich im Rheinland eine neue Existenz auf. »Es ist kein leichter Wechsel - vom angesehenen Staatsdiener zum Flüchtling. Aber ich war zur Zielscheibe Erdogans geworden. Ich wäre inhaftiert worden und musste das Land, das ich liebe, verlassen«, erzählt der 40-Jährige.

Mehr als 600 ranghohe Staatsbeamte aus der Türkei haben nach dem Putschversuch im Juli 2016 und den von Präsident Recep Tayyip Erdogan danach eingeleiteten Maßnahmen Schutz in Deutschland gesucht. Das berichtete das Bundesinnenministerium vor einer Woche. Insgesamt sei die Zahl der Flüchtlinge aus der Türkei merklich gestiegen. Das Thema sorgt für heftigen Ärger zwischen Deutschland und der Türkei.

»Seit dieser Nacht im Juli hat sich alles verändert. Ich wurde entlassen, wie viele Tausend andere auch. Wer im Verdacht steht, Erdogan und seine Linie nicht zu unterstützen, wird wie ein Terrorist behandelt, diffamiert, gejagt«, schildert Cem. »Ein befreundeter Beamter ist Ende 2016 inhaftiert worden - und ich wusste, ich wäre einer der nächsten gewesen.« Vor knapp einem Jahr flüchtete er mit Frau und Kind. »In der Türkei gibt es kein Recht mehr, keine Sicherheit, keine Verlässlichkeit, keine freie Lehre, keine Demokratie, weder Meinungs- noch Pressefreiheit«, sagt er.

Auch in Deutschland lebt er zurückgezogen. Cem weiß von der Affäre um spitzelnde Imame der türkisch-islamischen Organisation Ditib und um Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes hierzulande. Viele der hier lebenden Türken unterstützen Erdogans Kurs. Der 40-Jährige will deshalb kein Risiko eingehen. »Ich meide aus Vorsichtsgründen jeden Kontakt zu Türken.«

Seit Juli 2016 sind mehr als 150.000 Staatsbedienstete per Dekret suspendiert oder entlassen worden. Mehr als 50.000 Menschen sitzen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung in U-Haft. Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich, was dieser zurückweist.

Auch die beiden Professoren Mehmet (46) und Merve (44) verloren im Sommer 2016 ihre Stellen an der Hochschule. »Kurz nach dem Putschversuch wurden wir entlassen. In wenigen Sätzen wurde behauptet, wir seien Teil der Gülen-Bewegung«, schildert Mehmet. Seine Frau ergänzt: »Wir standen auf einer der veröffentlichten Listen mit den Namen von tausenden Leuten, die angeblich einer Terrororganisation von Gülen angehören sollen. Ein Schock.« Viele Professoren an ihrer Universität seien rausgeworfen und etwa ein Drittel von ihnen verhaftet worden. »Damit wurde uns klar, dass wir in großer Gefahr schwebten«, so Merve. Sie sorgt sich um ihre Angehörigen, die bereits von der Polizei verhört worden seien.

Die 44-Jährige betont: »Erdogan entfernt alle Menschen, die ihm im Weg sind, aus ihren Posten und füllt die Lücken mit seinen Getreuen. Und er will die Todesstrafe einführen. Ich befürchte, dass dann das Leben vieler Menschen bedroht ist.« Ihr Mann meint: »Die türkische Bevölkerung hat keine Chance, sie wird massiv unterdrückt. Sie kann Erdogan nicht stoppen.« Seine Heimat werde in Richtung Diktatur gedrängt.

»Wir waren wohlhabend, hatten Autos, ein tolles Haus. Aber dann ist uns unsere Ehre, unsere Perspektive genommen worden«, beklagt Mehmet. Ebenso wie Cem ist das Paar dankbar für den Schutz in Deutschland. Auch sie meiden Türkischstämmige. »Es gibt türkische Bürger, die fotografieren ihre Landsleute, um deren Aufenthaltsort in die Türkei zu verraten«, sagt er. Er und seine Frau bleiben deshalb möglichst zu Hause im Großraum Köln.

Die Sorgen vieler Türken bekommen zum Beispiel auch die Träger von Sprachschulen zu spüren. »Man hört bundesweit von vielen Trägern, dass die türkischen Teilnehmer in den Deutschkursen sehr verunsichert sind, nicht wissen, wem sie vertrauen können«, bestätigt Matthias Jung. Als Vorsitzender des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache weiß er: »Die Zahl der Teilnehmer aus der Türkei in den Kursen hat deutlich zugenommen. Es sind sehr viele Menschen mit einem hohen Bildungsniveau darunter. Da kommt die Bildungselite der Türkei zu uns - Ärzte, Hochschullehrer, Anwälte, Beamte.«

Jung meint: »Die systematische Einschüchterung in der Türkei wird die Zahl der Asylbewerber weiter steigen lassen.« 2017 - mit 5447 registrierten Asylsuchenden bis September - und 2016 lag die Zahl um ein Vielfaches höher als in den Vorjahren.

Cem will sich nun beruflich noch einmal ganz neu versuchen und hat hier in Deutschland eine Zusage für einen Studienplatz. Den Traum von einer Rückkehr verbietet er sich: »Ich habe keine Hoffnung, dass die Türkei jemals wieder ein freies, demokratisches Land wird.« dpa/nd

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