»Machokultur« im EU-Parlament

Über 90 Personen berichteten, von hochrangigen EU-Politikern belästigt worden zu sein

  • Samuela Nickel
  • Lesedauer: 4 Min.

Brüssel. Im Zuge der Belästigungs- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein berichten nun auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Europaparlaments über sexuelle Belästigung innerhalb der der EU-Institutionen.

Das Onlinemagazin »Politico« veröffentlichte am Montag eine Reihe von Aussagen von 87 Frauen und sechs Männern, die von übergriffigem Verhalten vonseiten hochrangiger EU-Politiker berichten. Die Erlebnisse reichen von EU-Arbeitsverträgen, die im Tausch für sexuelle Gefälligkeiten angeboten wurden, über Aufforderungen, Sexarbeiterinnen für ihre Chefs zu buchen, bis hin zu Mitarbeitern, die belästigt, gemobbt und in Zwangsurlaub geschickt worden sind. Über 30 Berichte von Vergewaltigungen, Übergriffen und Belästigungen im Zusammenhang mit dem EU-Parlament habe man mittlerweile von Betroffenen bekommen. Die Recherche zeige laut »Politico«, dass das Problem des Sexismus systemisch sei und weit über die EU-Institutionen hinausreiche. Die Hälfte der Vorwürfe betrafen ebenso den privaten Sektor wie auch Nichtregierungsorganisationen.

Bereits am Wochenende hatte die Zeitung »The Sunday Times« schwere Vorwürfe von EU-Parlamentsmitarbeiterinnen veröffentlicht. So sollen Männer Mitarbeiterinnen auf verschiedenste Arten sexuell bedrängt, ohne Einwilligung angefasst oder fotografiert haben. In einem Fall habe ein Parlamentarier vor einer Kollegin masturbiert.
Der britischen Zeitung zufolge sind unter den Beschuldigten mindestens zwei Abgeordnete aus Deutschland. Einer von ihnen wird sogar als »führend« bezeichnet. Namentlich genannt wird in dem Bericht aber nur der 71-jährige Grünen-Politiker Yves Cochet aus Frankreich. Er soll unangemessene Textnachrichten an eine Mitarbeiterin gesendet haben. Die Identitäten der anderen Beschuldigten enthüllte das Medium nicht – nach eigenen Angaben auf Wunsch der Parlamentsmitarbeiterinnen. Die Betroffenen fürchteten um ihre Arbeitsplätze, schrieb die Zeitung.

Der Präsident des Europaparlaments, Antonio Tajani, zeigte sich »schockiert und entrüstet« über die Missbrauchsvorwürfe. In einer von Tajani anberaumten Dringlichkeitsdebatte beriet sich das EU-Parlament in Straßburg am Mittwochmorgen zu den Vorfällen. Über eine Stunde lang diskutierten EU-Abgeordneten und kamen fraktionsübergreifend zu dem Schluss: Die Vorwürfe und die bestehenden Beschwerdemöglichkeiten im Parlament müssen von externen Experten überprüft werden.

EU-Politiker und Politikerinnen der Liberalen, Linken und Grünen schlugen dazu unabhängige Untersuchungen vor. »Wir wollen eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle durch externe Expertinnen und Experten. Nur so können wir sicherstellen, dass den Betroffenen unvoreingenommene Unterstützung zukommt und die Fälle aufgeklärt werden«, sagte die SPD-Europaabgeordnete Maria Noichl. Ihr französischer Fraktionskollege Edouard Martin pochte auf konkrete Maßnahmen, wie sichere Arbeitsverträge für Assistenten und Assistentinnen. Da derzeit viele Betroffene aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes schwiegen. Mehrere Abgeordnete und Mitarbeiter forderten ebenso vorab in einer E-Mail an den Parlamentspräsidenten Tajani einen »radikalen Wandel«. »Auch wir sind entweder Opfer oder Zeugen von Missbrauch geworden, von sexistischen Kommentaren und Verhaltensweisen, von sexueller Belästigung und Übergriffen an diesem Arbeitsplatz, durch Abgeordnete oder Mitarbeiter«, heißt es in der E-Mail an Tajani.

Dieser hatte zuvor externe Untersuchungen abgelehnt und auf einen bereits existierenden, parlamentsinternen Ausschuss verwiesen, der sich auch mit Beschwerden wegen sexueller Belästigung befasse. Änderungsbedarf oder die Notwendigkeit unabhängiger Untersuchungen sah er nicht: »Man sollte das nicht in externe Hände geben.« Das EU-Parlament habe bereits seit 2014 Anlaufstelle, die auch Betroffene von sexueller Gewalt beraten solle. »Wir werden sehen, wie viele Personen sich melden«, hatte Tajani gesagt. Bislang seien bei der Anlaufstelle nur wenige Beschwerden eingegangen.

Im Europaparlament würden Frauen sexuell belästigt, betonte die konservative Politikerin Jadwiga Wisniewska aus Polen. Die betroffenen Frauen müssten endlich ihr Schweigen brechen und laut rufen, »es reicht.« Die schwedische Grüne Malin Björk beklagte eine »Machokultur« im Straßburger Parlament. Es sei höchste Zeit, Verhaltensweisen zu bekämpfen, die seit jeher das Leben der Frauen belasteten, fordert die Österreicherin Angelika Mlinar von der liberalen Partei NEOS. »Wir müssen von einem Hashtag 'MeToo' zu einem Hashtag 'NotMe' kommen«, betonte sie.

Am Donnerstag soll über eine entsprechende Resolution abgestimmt werden. Der Entschließungsantrag soll ermöglichen, dass sich Betroffene von sexuellen Übergriffen auch an den zuständigen Ausschuss wenden, damit die konkreten Vorwürfe geprüft und gegebenenfalls Sanktionen oder strafrechtliche Schritte eingeleitet werden können.

Seit den Missbrauchsvorwürfen gegen Harvey Weinstein berichten unter dem Stichwort »#MeToo« Menschen weltweit von sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen oder sexistischen Demütigungen. Die schwedische Außenministerin Margot Wallström äußerte sich ebenfalls im Rahmen der Sexismus-Kampagne über ihre Erfahrungen von sexueller Gewalt »auf höchster politischer Ebene«. Im Zuge der Debatte hatte sich auch die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) zu Wort gemeldet. Sie berichtete über eine sexistische Bemerkung, die ein ehemaliger Botschafter ihr gegenüber öffentlich äußerte. Mit Agenturen

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