Was vernünftig ist, bleibt falsch

Gedanken über das Wesen der Vorweihnachtszeit: Geschenke und verschenkte Gelegenheiten. Von Hans-Dieter Schütt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Bald ist Weihnachten? Ja. Aber schon wenn man dieses eine Wort etwas zu langsam ausspricht, hat man die Fühlung zum Wesen unserer Zeit verloren. Es gilt, Weihnachten bereits jetzt schnellstens zu vergessen! Tempo! Denn der Osterhase aus Schokolade steht absehbar vor der Tür. Nein, nicht vor jeder Tür, aber sehr wohl vor der Hauptpforte unserer Existenz: der Kaufhaustür!

Keiner Gegenwart wird Zeit gelassen, sich überhaupt als Zeit zu begreifen. Sie ist flüchtiges Durchgangsstadium. Wer kann denn noch unterscheiden, was im Fernsehen Abspann des einen und Vorspann für einen kommenden Film ist? Wir jagen durch Transit-Räume, und jedes angesetzte Fest ist lediglich die Verschnaufpause vor dem Sturm aufs nächste. Wir bewegen uns rasend vorwärts im Beschuss der wechselnden Reize und verlassen doch nie den Nullpunkt der Erlebnisleere. Der Satz, dass Ostern und Weihnachten auf einen Tag fallen könnten, ist zwar Blödsinn, er war seit jeher der Verweis auf die Paradoxie eines ewigen Friedens, den es ebenso wenig geben kann wie die Koexistenz von Löwe und Lamm (es sei denn, der Löwe ist satt und das Lamm lebensmüde), aber: Es ist daraus ein Kampfziel des Einzelhandels geworden, dessen Erfüllung wohl bald bevorsteht.

Das Schenken ist im Zuge dessen eine seltsame Mechanik geworden. In Zeiten wie dieser, da das Grund-Gesetz unbarmherziger denn je lautet: Es wird einem nichts mehr geschenkt. Diese Weisheit trägt leider jeder allzu eilfertig vor sich her wie eine Monstranz, wie einen Sieg, wie ein Zertifikat: Geeignet für den Lauf der Welt! Geeicht auf den Nutzenfaktor! Das ist ganz Theologie der neueren Praxis! Von da ist es nur ein Schritt bis zu jenem anderen Vorweihnachts-Satz, der in Familien den Gedanken des Schenkens endgültig abtötet: Dieses Jahr gibt es aber wirklich nur vernünftige Geschenke!

Das ist blanke Notwehr. Gegen das Herandrängende, zu dem du keine Beziehung mehr hast. Denn mit Weihnachten kommt eigentlich ein Ritus auf dich zu, der traurigerweise längst ums Dasein kreist wie ein kalter, abgesprengter Planet. Beseelende Verbindungen sind gekappt - zwischen dem Leben und dem Wesentlichen. Dem Sozialen und dem Spirituellen. Du weißt das, das spürst du. Du weißt, dass der Alltag immer gegen das Wesentliche verstößt. Gewiss, du kannst nicht immer wesentlich sein. Aber kannst du es überhaupt noch? Weißt du noch, was das ist? Daher also die Notwehr: Bitte nur vernünftige Geschenke. Das vernünftigste Geschenk zu Weihnachten ist immer: Geld. Es ist demnach nicht mehr die Frage, was geschenkt wird, sondern nur noch: Wie viel? Da hält jeder gern als Bittender die Hand auf. Was ja unterm Bäumchen viel gemütlicher ist, als bettelnd vor der Kaufhalle zu stehen.

Was das besagte Wesentliche nun sei? Atmosphäre zu schenken. So, dass inmitten all dessen, was man hat, doch ein Verlustgefühl wachsen darf: Dir fehlt etwas, weil es den Ärmsten der Welt fehlt. Und dies noch empfinden zu können, diesen Verlust - das ist vielleicht schon das wahre Geschenk. So viel Bitterkeit darf verlangt werden beim »O du fröhliche«. Gegen gegen diese humane Dialektik opponieren die vernünftigen Geschenke. Sie sind nützlich, aber sie helfen dir nicht unbedingt.

Schön zum Beispiel, wenn man einem Menschen Aufmerksamkeit schenkt. Das geht aber nicht einfach so, mit purer Leichtigkeit, nein, das muss schon irgendwann Mühe werden, Bewusstseinsleistung, Initiative. Was ist Aufmerksamkeit? Die stets aufs Neue mobilisierte Wachheit. Die Blume zum banalsten Moment. Das Geschenk in der anlasslosesten Stunde. Das verständige Schweigen, wo man Schweigen nicht aushält. Ins Einverständnis hinein die kritische Frage. Oder gar keine Frage, nicht mal die drängendste. Das Lächeln. Der Arm um die Schulter. Die helfende Hand. Die Decke, über einen leichten Schlaf gelegt. Ahnen, wo Alleinsein nottut. Wissen, wann die Not kein Alleinsein aushält. Und das alles - zwischen freudiger Selbstlosigkeit und möglichst eleganten spielerischen Ausgleichen der familiären Egoismen - eingebettet in die natürliche Folge der Dinge: Kinder, Arbeit, Freunde, Nachbarn, Werktag und Wochenende, Leistungszeit und Urlaubszeit. Schwierige Übung. Geben sei besser als nehmen? Besser ist solches Nehmen, das zugleich gibt. Anteilnahme mit Hingabe.

Längst wurde die Aufmerksamkeit eine Währung, mit der man sich einkauft. Ins grelle Licht der Medien. Ins Licht einer Bedeutsamkeit, die Wert an sich wurde. Kapitalismus der Aufmerksamkeit, nennen das die Politologen. Man wird mit Aufmerksamkeit belohnt, wenn man selber grell genug ist. Sie ist keine voraussetzungslose Frage der natürlichen Würde mehr, sondern wurde zum Privileg, gebunden an den Markt der Veröffentlichung. In einer lockeren, distanzierten Gesellschaft der freien Kundenassoziation.

Es gibt zwei große deutsche Lügenzeiten. Wahlen sowie Beerdigungen. Und eine dritte: Heiligabend. Wenn es nämlich durch zahllose Wohnzimmer »Oh« und »Ah« tönt, dann weiß man, dass jetzt, fast gleichzeitig, von Millionen Menschen das unpassendste und ideenloseste Geschenk, just das vernünftigste eben, ausgepackt wird - mit jenem Gesichtsausdruck beglückender Freude, der doch die Schrecksekunde nur überspielt. Unterm Tannenbaum diese eine Sekunde Spiel ist genau das, was uns Heiligabend massenweise verbindet. Im Falschen, das uns als Geschenk geboten wird, sind wir vielen Einzelnen tatsächlich ein Volk.

Dass wir aber das Spiel mitspielen und die Krawatte, die Unterhose, das Paar Strümpfe, den Gutschein nicht sofort bärbeißig wegschieben, das muss letzten Endes doch als Zeichen unserer tiefinnerlichen Weihnachtsbereitschaft gesehen werden: Immer warten und hoffen wir auf jemanden, der besser als wir selber weiß, was wir uns wünschen, was wir brauchen. Auch wieder: eine sehr schwierige Übung. Auf die Enttäuschung, dass es nicht eintritt, reagieren wir dann mit der Milde eines biblischen Gleichmuts, der sich auskennt in den begrenzten Möglichkeiten des Menschen.

Mal ehrlich, wir wollen doch nicht wirklich etwas Vernünftiges geschenkt bekommen! Jeder Einzelne will im Gegenteil das absolut Unvernünftige, das schöne Unvorstellbare, das freilich Unerfüllbare: Er möchte durch Beschenktwerden nicht an-, sondern ausgesprochen sein. Er möchte in einem Geschenk gewissermaßen - erraten werden. Für solche Gaben bedarf es einer Gabe. Man könnte sie gelebte Nähe nennen. Sie könnte Weihnachten zum Fest machen, wenn wir nur die Vorbereitung schon als das wahre Fest verstünden. Aber dann, wenn es so weit ist, war Weihnachten - mit Hilfe des Einzelhandels - doch nur wieder eine verschenkte Gelegenheit.

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