Vererbte Angststörungen

In Industrieregionen werden die Erfahrungen mit persönlichen Notlagen an die nachfolgenden Generationen weitergereicht

  • Elke Bunge
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist die umfassendste Studie zu den Auswirkungen der industriellen Revolution auf Generationen von Menschen: Ein internationales Psychologenteam unter Führung der Universität Cambridge befragte 400 000 Menschen zu ihrer gesundheitlichen und emotionalen Situation. Die in der Fachzeitschrift »Journal of Personality and Social Psychology« veröffentlichten Ergebnisse zeigen erstaunliche, teils auch bedrückende Erkenntnisse: Menschen, die in den ehemaligen industriellen Kerngebieten in England und Wales leben, zeigen deutlich negative psychische Merkmale wie Angst, Unruhezustände und Depressionen.

»Wir haben regionale Muster der Persönlichkeiten und des Stands des Wohlbefindens gefunden, die ihre Ursachen in den Jahrzehnten der industriellen Revolution von vor 200 Jahren haben«, fasst der Ko-Autor der Studie, Jason Rentfrow von der Psychologischen Klinik der University of Cambridge, die Ergebnisse zusammen. Die Menschen in den untersuchten Zechen- und Stahlregionen der britischen Insel zeigen ein höheres Potenzial an Ängstlichkeit, Depression, psychischer Labilität und auch Aggressivität. An der Studie nahmen Psychologen aus Großbritannien, den USA und aus Deutschland teil. Die in England und Wales erhobenen Werte wurden durch US-Wissenschaftler für die Bergbau- und Stahlregionen in Nordamerika mittels »robuster Studien« bestätigt.

Die Wissenschaftler untersuchten bei ihren Befragungen die »großen fünf« Persönlichkeitseigenschaften: Extraversion, Verträglichkeit, Pflichtgefühl, Neurotizismus und Offenheit. Zudem bezogen sie Faktoren wie Altruismus und Neigung zu Angststörungen in die Untersuchungen ein. Die Resultate waren eindeutig: Etwa 33 Prozent mehr Menschen als im übrigen Land leiden in den Kohleregionen an der labilen Persönlichkeitsstörung Neurotizismus. Bei Angststörungen und Depressionen sind es 31 Prozent mehr. Um 29 Prozent geringer als in den Nichtindustriezonen ist dagegen die Rate der Zufriedenheit. 26 Prozent der in diesen Gebieten Lebenden zeigen sich weniger verträglich und mehr streitsüchtig.

Die Psychologen stellen die These auf, dass die Ursachen für das unterschiedliche Verhalten der Menschen nicht etwa in der gegenwärtigen Rezession - dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie verbunden mit weitreichender Arbeitslosigkeit - zu suchen sind, sondern bereits in den Vorzeiten der industriellen Revolution. Zu jener Zeit zogen viele Menschen auf der Suche nach Arbeit und auf der Flucht vor dem Elend in den ländlichen Regionen in die damals aufstrebenden Industriezonen. Dies waren vor allem Menschen, die von bereits gesammelten schlechten Erfahrungen ängstlich und depressiv waren sowie diese Eigenschaften untereinander und an die nachfolgenden Generationen weitergereicht haben. Schwere Kinderarbeit, schlechte Lebensbedingungen in überfüllten Wohnsiedlungen sowie mangelnde Gesundheitsvorsorge hätten über die Jahrhunderte die Lage noch verschärft, so die Psychologen.

Die Wissenschaftler schlossen die Bedeutung der aktuellen Situation deshalb als Einfluss aus, weil von den Persönlichkeitsstörungen auch Menschen betroffen sind, die in keiner akuten Notlage angetroffen wurden. »Unsere Studie kann den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft vielleicht wichtige Hinweise geben, wie soziale Probleme bei der Weiterentwicklung von Industrie künftig berücksichtigt werden sollten«, erklärt Michael Stützer von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, ebenfalls Ko-Autor der Studie. Dabei sollten auch erkannte positive Effekte wie eine hohe Bereitschaft zur Solidarisierung und das Engagement in Arbeiterbewegungen einberechnet werden.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal