Russland trotzt dem Telefonterror

Wegen falscher Alarme mussten 2,5 Millionen Menschen evakuiert werden / Duma verschärft Gesetz

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Vom Operationstisch weg musste am Mittwoch auf Kamtschatka ein zwei Monate altes Kind in Sicherheit gebracht werden. Auf der fernöstlichen russischen Halbinsel wurden seit dem Morgen Krankenhäuser, Schulen und Kaufhäuser nach anonymen telefonischen Bombendrohungen evakuiert. Auch nach Stunden konnten jedoch laut dem Webportal »Kamtschatka-Inform« keine Sprengsätze gefunden werden.

Mit einer Verdopplung der Freiheitsstrafen für Telefonterrorismus auf nunmehr bis zu zehn Jahre Lagerhaft versucht Russland solcher Angriffe besser Herr zu werden. Dazu verabschiedete die Staatsduma am Mittwoch in dritter Lesung ein Gesetz, das besonders bei Todesfällen und großen Schäden infolge von Drohungen mit Attacken auf die Infrastruktur, Gesundheits-, Bildungs- Sport- und andere Einrichtungen härtere Strafen vorsieht.

Im Herbst war das ganze Land einer Welle terroristischer Telefonattacken ausgesetzt. Pawel Kraschennikow, Vorsitzender des Komitees für Staatsaufbau und Gesetzgebung, erinnerte an die Evakuierung von fast einer halben Million Menschen. Allein zwischen dem 11. und 25. September 2017 waren über das ganze Land verstreut rund 1000 anonyme Bombendrohungen eingegangen. In Moskau, Jekaterinburg, Tscheljabinsk, Perm, Nowosibirsk, Wladiwostok und anderen Städten mussten Schulen, Krankenhäuser, Handelszentren, Hotels und Bürogebäude sowie »verschiedene Transportobjekte« evakuiert werden. Der Schaden habe mindestens ein Milliarde Rubel betragen.

Der Inlandsgeheimdienst FSB listete seit dem 11. September telefonische Anschlagsdrohungen gegen 3500 Gebäude in 180 Städten von Kaliningrad bis Sachalin auf. 2,5 Millionen Menschen hätten insgesamt in Sicherheit gebracht werden müssen. Das Innenministerium, das von »richtigen Cyberattacken« sprach, verwies auf inzwischen fast 3000 eingeleitete Untersuchungen.

Einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion, so beklagte jedoch Oleg Makarow, Beobachter von RIA/Nowosti, lehnten eine Zusammenarbeit mit Russland bei der Aufklärung dieser Art von Verbrechen ab. »Die Telefonrowdys sind nicht zu besiegen, selbst wenn wir der Freiheit des Wortes an die Kehle gehen und den Journalisten die Information über erlogene Mitteilungen über Terrorakte verbieten.«

Das seien geplante Aktionen mit ideologischem Hintergrund ist sich Juri Sapunow, früherer FSB-Chef für den Kampf gegen internationalen Terrorismus, im Gespräch mit der Publikation »Argumenty i Fakty« sicher. »Das faktische Ziel eines Terroraktes wird ohne den Terrorakt selbst erreicht: In der Gesellschaft entsteht eine Psychose, die Menschen leben in ständiger Sorge.« Zudem koste jede Evakuierung Geld, Arbeit bleibe liegen.

Trotz verschiedener Theorien und des wiederholten Bezuges auf hochrangige, aber nicht näher bezeichnete »Quellen«, bleibt die Frage nach den Schuldigen bislang unbeantwortet. Die frühe Vermutung, es handele sich um Übungen der Geheimdienste, wurde rasch als absurd verworfen. Fromme Orthodoxe und kämpferische Monarchisten kamen als gemeinsame Gegner des umstrittenen Filmes »Matilda« über die Geliebte des heilig gesprochenen Zaren Nikolaus II. ebenfalls ins Gerede.

Verdächtigt werden inzwischen die Terroristen des Islamischen Staates ebenso wie »ukrainische Cybertruppen«. Die Zeitung »Wsgljad« bot mit Alexej Filatow einen Vizevorsitzender Assoziation der Veteranen der legendären Antiterroreinheit »Alpha« auf, der auf eine wachsende Feindschaft mit dem slawischen Nachbarn und ukrainische Terrorakte gegen die Stromversorgung der Krim verwies. Das russische Innenministerium wurde mit der nicht näher begründeten Erkenntnis zitiert, dass Anrufe aus Syrien, der Türkei, der Ukraine, den USA und Kanada erfolgt seien.

Deutlich näher dran am Geschehen war unlängst allerdings aus dem Städtchen Wolokolamsk bei Moskau ein 17-Jähriger. Der hatte ganz offenbar als ruhmsüchtiger Nachahmungstäter telefonisch einen Sportpalast in der Hauptstadt vermint - und wurde erwischt.

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