Liebe Berliner Nahverkehrsbetriebe: Ihr habt nicht mehr alle Tassen im Schrank

Ein Brief darüber, wie das Bürokratiemonster S-Bahn Schüler zu Kriminellen macht

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 5 Min.
So, nachdem ich mit dieser geheuchelten Freundlichkeit Eure Aufmerksamkeit habe, kommen wir gleich zur Sache. Um nicht um den heißen Brei herumzureden und es in aller Deutlichkeit zu sagen: Ihr habt nicht mehr alle Tassen im Schrank, nicht mehr alle Latten am Zaun. Eigentlich möchte ich Euch mit ganz anderen Ausdrücken belegen, solchen, die aus dem Vokabular deutschsprachiger Gangster-Rapper kommen, aber das wäre justiziabel. Belassen wir es also beim harmloseren: Ihr seid Vollpfosten!

Vor einigen Tagen erhielt mein 18-jähriger Sohn ein Schreiben der Bundespolizeidirektion Berlin mit Sitz in Frankfurt (Oder). Hierin wurde ihm eröffnet, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, weil er in Verdacht stehe, folgende Straftat begangen zu haben: Erschleichen von Leistungen nach § 265a StGB. Wörtlich steht dort: »Wer die Leistung eines Automaten oder eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder einer Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.«

Viermal, so heißt es in dem Schreiben der Bundespolizeidirektion Frankfurt (Oder) weiter, sei mein Sohn vor nicht ganz einem Jahr im Abstand weniger Wochen ohne gültigen Fahrschein mit der S-Bahn unterwegs gewesen. »Der durch das Beförderungsunternehmen übermittelte Schaden« betrage 11,20 Euro, und zwar »zum Nachteil der S-Bahn Berlin GmbH«.

Verantwortlich für dieses Verfahren seid also Ihr, Ihr .. na, Ihr wisst schon. Ihr hattet vor einigen Jahren einen besonders perfiden Einfall: Wer ohne gültigen Fahrausweis unterwegs ist, muss nicht nur das sogenannte erhöhte Beförderungsentgelt von 60 Euro zahlen, sondern gegen den wird nach dem dritten Mal Strafanzeige gestellt.

Über die Gründe, warum Ihr das macht, wird viel spekuliert. Vielleicht steckt hinter der Idee, Schwarzfahrer oder solche, die Ihr dafür haltet, doppelt zu bestrafen; möglicherweise aber auch der Plan, die Kriminalitätsstatistik in Berlin nach oben zu treiben. Sollte es so sein, dann hattet Ihr Erfolg: allein bei der BVG stieg die Zahl der Anzeigen von 480 im Jahr 2013 auf über 33 000 ein Jahr später; im vergangenen Jahr mussten sich die Berliner Gerichte mit rund 40 000 solcher Verfahren herumplagen. Wie gesagt: Ihr habt nicht mehr alle Latten am Zaun!

Jetzt ist mein Sohn mit menschlichem Verstand betrachtet gar nicht Schwarzgefahren. Er besitzt eine Schülermonatskarte im Abo, für die wir seit Jahren brav Geld an Euch überweisen. Diese Monatskarte ist ein bürokratisches Ungetüm: Sie gilt nicht Kraft ihres Ausdruckes, sondern nur, wenn gleichzeitig ein gültiger Schülerausweis und eine VBB-Kundenkarte mit Passbild, eine sogenannte Trägerkarte, mitgeführt wird. Beide Dokumente - Schülerausweis und Trägerkarte - waren abgelaufen, als mein Sohn kontrolliert wurde; der Schülerausweis, weil das Schulhalbjahr herum war, die Trägerkarte, weil sie nur für den Zeitraum gilt, der auch auf dem Schülerausweis eingetragen ist.

Warum es eine gesonderte Kundenkarte braucht und der Schülerausweis nicht ausreicht, ist mir schleierhaft, aber, nun gut, man fügt sich als Bürger in die Bürokratie eines Unternehmens, über das der Journalist Harald Martenstein 2009, als wegen mangelhafter Bremsen der S-Bahn-Betrieb eingestellt werden musste, treffend folgendes schrieb: »Um die Berliner S-Bahn im April 1945 zum Stehen zu bringen, benötigte die Rote Armee 2,5 Millionen Soldaten, 6000 Panzer, 7500 Flugzeuge und 10 000 Geschütze. Der Bahn ist das Gleiche durch den Einsatz von lediglich vier Managern gelungen.« Einer von diesen vier Managern muss dann wohl sauer geworden sein, hat im Internet gegoogelt und stieß auf § 265a StGB.

Aber Ihr seid ja kulant (Achtung! Das war jetzt Ironie!!), und habt meinem Sohn (eigentlich natürlich mir und meiner Frau), nach den ersten beiden Kontrollen nur 7 Euro Bearbeitungsgebühr abgeknöpft. Nun war es aber so, dass sich das Neustempeln des Schülerausweises aufgrund bürokratischer Hemmnisse der Lernanstalt etwas hinzog. Dummerweise tappte mein Sohn innerhalb weniger Wochen mehrfach in die Kontroll-Falle. Selbstkritisch muss er sich eingestehen, dass er zwei Mal auch die Fahrkarte zuhause vergessen hatte. Allerdings hat er pflichtbewusst, wie er ist, die Monatskarte noch am gleichen Tag am S-Bahn-Schalter vorgelegt. Nun gut, die zwei Mal 60 Euro »erhöhtes Beförderungsentgelt« haben wir überwiesen, man will seine Zeit ja nicht mit dem Streit mit einer Firma verplempern, dessen Methoden eher an die der Mafia erinnern als an den Service eines Dienstleistungsunternehmens.

Vielleicht hätten wir aber damals härtere Geschütze auffahren müssen. Euer Unternehmenszweck ist ja die Beförderung von Menschen von A nach B, und genau das macht Ihr immer schlechter. Mein Sohn kam im vergangenen Jahr mehrfach zu spät zur Schule, weil irgendwo ein Stellwerk nicht funktionierte, Züge defekt waren und ausfielen, weshalb viele Züge so überfüllt waren, dass Fahrgäste mehrere Züge an sich vorbeifahren lassen mussten - oder eine Schneeflocke auf einem Gleis für Glatteis gesorgt hatte. Dabei ging unser Sohn schon zur Sicherheit fünf Minuten früher aus dem Haus, wenn es draußen ein wenig windig war. Wo kann man eigentlich Strafanzeige gegen Euch wegen Nichterfüllung des Beförderungsauftrags stellen?

Ganz und gar nicht erfreut, grüßt

Jürgen Amendt

P.S. Dieser Brief wurde nicht in der ersten Erregung geschrieben, in der man sich verständlicherweise in der Wahl seiner Worte etwas vergreift.

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