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Merkel im Badeanzug

Georg Büchners »Leonce und Lena« in Basel und am Theater Vorpommern

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Gräser im Wind: eine Filmsequenz auf der Bühnenrückwand des Theaters Stralsund. Schön. Jetzt alle Wegweiser in Richtung sehr ferner Wiesen drehen und unter Pflanzen, die noch keinen Namen tragen, das erwachsene Gesicht vergessen! So ähnlich träumen es auch Leonce und Lena. Reinhard Göber inszenierte Georg Büchners Lustspiel am Theater Vorpommern, Bühne und Kostüme: Ariane Salzbrunn.

Zwei Königskinder fliehen vor der Zwangsheirat, verlieben sich unterwegs, rebellieren so gegen den Plan der Eltern - der aber genau diese Liaison wollte: Leonce aus dem Reiche Popo möge zu Lena aus dem Reiche Pipi finden. So dreht sich eine Rebellion ungewollt im Kreis - und geht also gut aus, wie kaum eine Rebellion sonst. Dieses Lustspiel spielt mit der illusionären Lust, von heut an anders zu leben: weniger öde, weniger beflissen, nicht länger im Elend des seelischen Verfettens. Tätig sein? Ach, ist nicht ein Narr, wer da glaubt, weit mehr zu sein als Schaum auf einer Welle? »Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile, und - das ist der Humor davon - alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum.«

Vordergründig zeigt die Aufführung, von Popmusik umsäumt, ein sehr heutiges, büchnertextfernes kabarettistisches Potpourri zwischen Kinderarmut (»Klar, warum die entsteht: weil Kinder nicht arbeiten - das war früher anders«), Ablösesummen, Reichtumswahn (37 Milliarden Euro hat Lidl-Chef Schwarz, ja, »Lidl lohnt sich«) sowie Solidaritätsaufrufen (»Wir ziehen doch alle an einem Boot«). Büchner als Gerüst - fürs Pointenklettern entlang abgründigster Gegenwart.

Die Bühne, mit Lametta-Vorhängen links und rechts, hat einen Himmel aus Europa-Fahnen. Felix Meusel und Anna Greis - Renaissance der Blumenkinder - geben ein Leonce-und-Lena-Paar zwischen ständischer Geduld, die an ihr Ende will, und einem Aufbruchswillen, der wohl ein wenig seinen Anfang fürchtet. Liebe stiftet die Lösung. Das ist aber hier nicht der Punkt. Den setzt Stefan Hubschmidt als König Peter: Angela Merkel in rotem Blazer und mit Perücke. Neben sich den Präsidenten, bei Jan Bernhard eine turbonervöse Altmaier-Parodie. Auch diese Merkel ist auf den ersten Blick: glatte Satire! Wenn sie mit einem weißen Taschentuch in ein Rückwandfoto hineinwinkt, das ein überfülltes Schlauchboot auf dem Mittelmeer zeigt, dann verteilt der Theaterabenddienst Tempo-Taschentücher im Publikum. Sie werden benutzt, Stralsund hat eben nah am Wasser gebaut, und es geht beschämend lustig zu beim Trauerdienst: Immer mitklatschen, feste mitwinken - unser Weltempfinden ist ein Comedian.

Aber: Mit der Merkel-Figur geschieht etwas Merkwürdiges. Der Sprung nämlich des Witzes in die Tragikomik. Geradezu kämpferisch verteidigt Hubschmidt »seine« Kunstfigur gegen das Lachsalvenbedürfnis im Saal. Hans Magnus Enzensberger schrieb in einem Essay von der »groben Unverschämtheit, mit der wir Politiker anranzen, ohne an den hohen Preis ihres Persönlichkeitsverzichts zu denken.« Hier wird’s Ereignis: Denn wie gern würde der König Angela wieder mal nackt baden (aber die Leibwächter!). Wie gern würde er, also sie, George Clooney kennenlernen, »aber es reicht immer nur für Axel Prahl«. Wie gern würde sie »einfach nur mal glücklich sein« und eine Pirouette zu Mozartmusik drehen - jedoch: nur immer Bayreuth!

Man hört das, man amüsiert sich, aber man ertappt sich auch bei einem gewissen Gerührtsein. Fast peinlich ist das, denn es scheint so unangebracht im routinierten Vernunftzwang, just die Kanzlerin abzukanzeln. So verdorben ist man schon! Merkel ist der traurige Funktionsautomat, und der Dichter wirft ausgerechnet diesen Satz herein: »Ich bin ich«. Die Büchner-Ironie, der Büchner-Aufschrei: Welcher Mensch ist denn wirklich und wahrhaft ein Ich?

Viele Kilometer südlicher, am Theater Basel, hat Thom Luz Büchners Stück inszeniert. Auf einer von ihm selbst entworfenen Bühne, die an Marthalers Einsamkeitstableaus erinnert. Ein ruinöser »Tanzsaal«, ganz so, wie Leonce sein Kopfinneres bezeichnet. Ein Pianist spielt, wirklich schön, »An der blauen Donau«. Nur ist das Klavier zersägt, und so muss er zwischen zwei Zimmerenden hin- und hersprinten. Durchs Fenster steigt eine verhemmte regendurchnässte Hochzeitsgesellschaft. Auch Leonce und Minister Valerio, Lena und die Gouvernante waren vorher schon vom Regen in die Traufe, also wie Fremde in diese Aufführung hineingestolpert, ahnungslos über sich selber, ganz im Sinne von Büchners Wahrheit: »Die Erde und das Wasser da unten sind wie ein Tisch, auf dem Wein verschüttet ist, und wir liegen darauf wie Spielkarten, mit denen Gott und Teufel aus Langeweile eine Partie machen.«

Auch Thom reißt, wie Vorpommern, Büchners Stück auf. Die Rollenzuordnung gesprengt, die Handlung zerpuzzelt, die Schere übernahm hier die Dramaturgie, und ein großartig somnambules Ensemble collagiert sich durch einen Stoff, der keinen Beginn und kein Ende kennt. Der Vorhang fällt beizeiten. Und hebt sich freilich wieder: alles auf Anfang. Der aber nie einer wird in so viel festgehakten, antriebslosen Lebensläufen. Nicht aus Fortbewegungen entsteht unsere Existenz, sondern aus belebtem Stillstand. Erleben ist Vermissen. Eine der Damen zieht ihr helles Kleid aus, während eine andere vergeblich versucht, ihr schwarzes am Rücken zu schließen. Banal. Aber wer nicht bereit ist, darin ein Drama zu sehen, hat vom Leben wenig verstanden.

Basel bietet eine melancholische Melodei und Malerei (musikalische Leitung: Mathias Weibel), aber doch - wie Vorpommern - Büchners Geist. Der hat Text, ja, hier vor allem aber Musik: Mozart und Schumann und Berg. Und dieser Geist weiß die Wahrheit: Wer strebt, der irrt; wer denkt, der verzweifelt; wer Position bezieht, hält Ersatzbefriedigung für Sinn. Noch wo die Leutchen dieser Inszenierung an den Wänden kleben, schweben sie. Sie sind nicht, sondern sie schauen verwirrt und verwundert um sich und werden immer erst. Oder besser, also schlimmer: Sie werden nichts, bleiben in ihrem Schicksal, der Formlosigkeit. Niemand hat seinen festen Platz, seinen sicheren Stand. Zwar ist es schwer, einen neuen Gedanken in die Welt zu bringen, aber doch so leicht, einen neuen Ton zu schaffen: Man lege einfach eine Violine unter eine der im Raum verteilten Schuhputzmaschinen und höre. Dir das Hören zu erleichtern, verlöschen die Lichter. Streichhölzer übernehmen die Lichtregie. Streichhölzer? Streichinstrumente eher für ein Konzert, das die Augen erfrischt. Wie das Sterne-Schauen nachts unter freiem Himmel. Da kommt ja auch das Hören dem Sehen am nächsten. In Basel denke ich an die Stralsunder Angela Merkel. Als Kind, erzählt sie dem Publikum, stand sie im Schwimmbad auf einem Sprungturm, wohl eine Stunde lang, dann erst sprang sie. Den einen wurde das fortan zum Paradebeispiel der Unentschlossenheit, den anderen zum Beleg ihrer vorbildlichen Überwindungskraft. Das ist Charakter: von allen Seiten auf jeweils andere Weise missverstanden zu werden. Jetzt trägt der Spieler Jörg Hubschmidt einen Badeanzug, und wieder steht seine Merkel auf dem Sprungbrett. Unschlüssig. Wieder Ansatz: Sprung oder doch nicht? Licht aus. Schluss. Wie sagte Büchner und erfasste unser aller Krux: »O wer einmal jemand anders sein könnte! Nur eine Minute lang.«

Nächste Vorstellungen: 27. Januar (Stralsund), 20. Januar, 21. Februar (Greifswald); in Basel: 20., 25. Januar.

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