Der erlernte Ekel

Meisen verschmähen Nahrung, die Artgenossen angewidert ausgespuckt haben. Das klappt sogar per Video.

  • Frank Ufen
  • Lesedauer: 3 Min.
In den frühen 1920er Jahren fingen Meisen in Südengland plötzlich damit an, die Foliendeckel von Milchflaschen aufzupicken. In kürzester Zeit verbreitete sich diese Technik über ganz England und erreichte schließlich Schottland und Wales. Meisen sind also ziemlich clever, wenn es darum geht, bei anderen abzukupfern und sich deren Innovationen anzueignen. Aber nicht genug damit. Kürzlich haben die Biologin Rose Thorogood und ihre Kollegen von der Universität Cambridge herausgefunden, dass Kohlmeisen Lehren daraus ziehen, wenn sie beobachten, dass Artgenossen auf etwas mit Ekel und Abscheu reagieren. Die Wissenschaftler berichten über ihre Forschungsergebnisse im Fachjournal »Nature Ecology and Evolution« (DOI:10.1038/s41559-017-0418-x).

In dem Experiment, das Rose Thorogood und ihr Team durchführten, wurden Kohlmeisen mit Mandelsplittern verwöhnt, die in kleine weiße Tüten verpackt waren. Zunächst fanden die Vögel in jeder Verpackung, die sie öffneten, solche Leckerbissen. Doch dann wurde einer Kohlmeise eine mit einem schwarzen Quadrat gekennzeichnete Tüte vorgesetzt, die Mandelstückchen enthielt, die mit Chloroquinphosphat behandelt worden waren. Als die Meise diese scheußlich bitter schmeckende Kost probiert hatte, spuckte sie sie angewidert wieder aus und fing an, ihren Schnabel eifrig zu putzen.

Währenddessen wurde die Meise gefilmt, und bald darauf wurde der Videofilm 15 ihrer Artgenossen gezeigt. 15 anderen Meisen, die als Kontrollgruppe dienten, bekamen diese Aufnahmen nicht zu sehen. Unmittelbar danach wurden sämtlichen Meisen Mandelsplitter angeboten, teils in Tüten verpackt, die mit einem schwarzen Quadrat, teils in Tüten, die mit einem schwarzen Kreuz markiert waren.

Thorogood uns ihr Team konnten schließlich etwas Erstaunliches beobachten: Die meisten der Meisen, die auf dem Bildschirm einem Vorkoster zugesehen hatten, rührten die mit einem Quadrat gekennzeichneten, bittere Mandeln enthaltenden Tüten nicht an. Die Cambridger Biologen schließen daraus, dass Kohlmeisen über die Fähigkeit des sozialen Lernens verfügen und durchaus imstande sind, sich die schlechten Erfahrungen anderer zunutze zu machen.

Diese Befunde liefern laut Thorogood auch die Erklärung für ein paradox anmutendes Phänomen: Manche Insekten wie beispielsweise der Marienkäfer signalisieren durch grelle Farben und auffällige Muster Räubern wie etwa den Kohlmeisen, giftig oder ungenießbar zu sein. Allerdings wären die Überlebenschancen solcher Insekten äußerst gering, wenn jeder einzelne Räuber mindestens ein Exemplar der Tierart, die die Warnsignale aussendet, verspeist haben müsste. »Der Marienkäfer ist derart leicht zu erkennen, dass er kaum imstande wäre, zu überleben und sich fortzupflanzen, wenn erst jeder Räuber einen gefressen haben müsste, um zu entdecken, dass er übel schmeckt. Wir glauben, dass das sozial weitergegebene Wissen der Ungenießbarkeit, wenn es sich innerhalb einer räuberischen Spezies wie den Kohlmeisen verbreitet, das Paradox solcher auffällig gefärbten Insekten wie den Marienkäfern möglich macht«, erklärt Rose Thorogood.

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