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Demokratie am Kipppunkt
Die neue Mitte-Studie warnt vor der Normalisierung des Rechtsextremismus durch eine zunehmend anschlussfähige Abwertung von Schwächeren
Auch wenn die Demokratie im Allgemeinen weiterhin große Zustimmung genießt, wächst das Misstrauen in sie: Mehr als jeder Fünfte in Deutschland hat kein Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Das geht aus der neuen sogenannten Mitte-Studie hervor, die am 6. November vorgestellt wurde. Seit 2006 beauftragt die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) alle zwei Jahre darin die Erhebung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland. Bis 2012 führte diese ein Forschungsteam um Oliver Decker und Elmar Brähler durch, das mittlerweile die Leipziger Autoritarismus-Studien verantwortet. Die Durchführung liegt seit 2014 bei dem Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung unter Andreas Zick.
Die Studien geben Auskunft über die Verbreitung, Entwicklung und Hintergründe rechtsextremer, menschenfeindlicher und antidemokratischer Einstellungen in Deutschland. Während die letzten Studien noch von einer »geforderten« und 2023 von einer »angespannten Mitte« sprachen, diagnostiziert die aktuelle Rechtsextremismus-Studie »die angespannte Mitte«. Dies zeigt sich deutlich in den Zahlen zum Vertrauensverlust. In der Vorgängerstudie 2023 lag die entsprechende Zahl zum Misstrauen gegenüber der Demokratie noch bei 18,3 Prozent der Befragten.
Auch in demokratische Wahlen fehlt bei immer mehr Befragten das Vertrauen. Waren es 2023 noch elf Prozent, misstraut nun fast jeder vierte Befragte demokratischen Wahlen – im Vergleich zur 2021 veröffentlichten Studie sind das dreimal so viel Befragte. Dass die deutsche Demokratie »im Großen und Ganzen ganz gut« funktioniert, glaubten im vorangegangenen Zeitraum noch knapp 57 Prozent, nun ist ihr Anteil auf 52 Prozent gesunken. Ein Höchstwert seit 2016. Knapp ein Drittel der Befragten glaubt die Aussage »Die regierenden Parteien betrügen das Volk«, mehr als jeder zweite fordert »mehr Widerstand gegen die aktuelle Politik«.
Normalisierte Menschenfeindlichkeit
Um fünf Prozentpunkte ist in der aktuellen Studie zwar die Zahl der Befragten mit einem rechtsextremen Weltbild gesunken, sie liegt mit 3,3 Prozent aber über den Angaben von 2014 bis 2021. Fast ein Viertel der Befragten verharmlost den Rechtsextremismus und findet, er werde »in den Medien hochgekocht« oder es sei am besten, ihn »gar nicht zu beachten«. Dazu kommt: Jede fünfte Person stimmt rechtsextremen Aussagen weder zu noch lehnt sie diese deutlich ab. Die Wissenschaftler*innen sprechen von einem »Graubereich«, der sich gefestigt hat. Er zeige eine Offenheit für antidemokratische Orientierungen, zudem sei eine Normalisierung antidemokratischer und menschenfeindlicher Aussagen zu beobachten.
Zweifel an der Demokratie gehen mit Einstellungen einher, die dem liberalen Geist des Grundgesetzes widersprechen. Beispielhaft dafür meint jeder vierte Befragte: »Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert«. Die Zustimmung zu nationalchauvinistischen Aussagen insgesamt ist auf knapp 20 Prozent gestiegen. Sie ist »ein Einfallstor für die Zustimmung zu weiteren Dimensionen rechtsextremer Einstellungen«, so die Herausgeber*innen der Studie. Zwar ist der Anteil derer, die meinen, in einer Demokratie solle die Würde und Gleichheit aller an erster Stelle stehen, mit knapp 88 Prozent gleichgeblieben. Zugleich meint aber mehr als jeder dritte Befragte, »im nationalen Interesse können wir nicht allen die gleichen Rechte gewähren«. Mehr als ein Viertel stimmt der Aussage zu, es werde zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen und mehr als jeder Zehnte lehnt es ab, die Grundrechte von Minderheiten zu schützen. Jeder vierte Befragte ist zumindest teilweise bereit, die Gleichwertigkeit von Menschen infrage zu stellen, die Abwertung von trans* Menschen hat ebenfalls weiter zugenommen.
Die Studie zeigt: Längst haben rechtsextreme Einstellungen ihren Weg in die breite öffentliche Debatte gefunden, Konsequenzen sind Gewöhnungseffekte und Normalisierung. Mehr als ein Drittel teilt abwertende Einstellungen gegenüber Asylsuchenden, mehr als 36 Prozent werten Langzeitarbeitslose ab und unterstellen ihnen, sie machten sich »auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben«. Auch antisemitische Einstellungen sind in der Gesellschaft stärker geworden. So stimmen beispielsweise 17 Prozent israelbezogenem Antisemitismus eher oder ganz zu, das entspricht einer Steigerung von zwei Prozentpunkten gegenüber der letzten Studie. Dazu stimmt in der aktuellen Auswertung mehr als jeder vierte Befragte den Aussagen »teils/teils« zu.
Vom Wettbewerb zur Gewalt
Was besonders auffällt: Ein Viertel der Befragten hängt einer libertär-autoritären Ideologie mit neoliberalen und autoritären Gesellschaftsbildern an. Besonders diese Gruppe neigt deutlich stärker zu einem rechtsextremen Weltbild, fast jeder Fünfte von ihr billigt politische Gewalt und stimmt der Aussage zu, »Gegen politische Gegner muss man auch mal Gewalt einsetzen, um nicht den Kürzeren zu ziehen«. Die Wissenschaftler attestieren dem »leistungs- und nützlichkeitsorientierten Blick auf die Welt«, anschlussfähig für antidemokratische, rechtsextreme und gewaltbilligende Haltungen zu sein. Subtiler als der klassische Rechtsextremismus transportiere die Haltung, »nicht zu viel oder gar keine Solidarität mit Schwächeren zu zeigen, Menschenfeindlichkeit in die gesellschaftliche Mitte«. Zick resümiert, »radikale Gegenentwürfe von rechts treiben die Gesellschaft in Richtung eines Kipppunktes, und Teile der Mitte folgen in der Hoffnung auf ein ›Wir zuerst!‹«.
»Radikale Gegenentwürfe von rechts treiben die Gesellschaft in Richtung eines Kipppunktes, und Teile der Mitte folgen in der Hoffnung auf ein ›Wir zuerst!‹.«
Andreas Zick Sozialpsychologe
Zur Veröffentlichung der aktuellen Studie erklärte Martin Schulz, der Vorsitzende der FES, »dass die antidemokratische und menschenfeindliche Stimmungsmache von Rechtspopulisten sich langsam in die Mitte der Gesellschaft hineinfrisst«. An politische Verantwortungsträger und die Zivilgesellschaft appellierte er: »Gegenhalten!«. Denn die Studie hat auch Potenziale zum Umgang mit Rechtsextremismus ermittelt und zeigt, dass rund drei Viertel der Menschen in Deutschland rechtsextreme Einstellungen ablehnen. Jeder zweite Befragte ist bereit, selbst etwas gegen Rechtsextremismus zu tun. Gleichzeitig warnen die Verfasser*innen davor, eine Zivilgesellschaft, die für Werte wie Solidarität und Fairness eintritt, »zu verdächtigen, einseitige Ideologien zu vertreten«.
Die Politik hingegen müsse zeigen, »dass sie mit den Mitteln der Demokratie die bestehenden Herausforderungen meistern und das Alltagsleben der Menschen spürbar verbessern können«, so Schulz. Geradezu ein Schutz für die Demokratie sei ein starker Sozialstaat. Franziska Schröter, bei der FES verantwortlich für das Projekt gegen Rechtsextremismus, ergänzt: »Die teilweise aufgeheizten Diskussionen über soziale Sicherungssysteme … zeigen, wie anfällig das demokratische System für Populismus, Desinformation oder offen rechtsextreme Kampagnen ist«. Eine Feststellung, die wie gemacht ist für das Stammbuch der Regierungskoalition und ihren »Herbst der Reformen«.
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