Verbeugung vor den Vorfahren

Tatjana Kuschtewskaja und die Apotheke ihrer Babuschka

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Mein Vater Wassili Kuschtewski starb im Juni 2016 im Alter von 97 Jahren«, schreibt Tatjana Kuschtewskaja. Nie sei er ernsthaft krank und bis zuletzt bei klarem Verstand gewesen. Wie viele ältere Menschen in der Ukraine hatte er das Gefühl, »dass früher alles besser war. Er war Arzt von Beruf, doch in seiner Seele war er ein Maler und Dichter. Er liebte die Musik und begeisterte sich für Aromatherapie. Gern hängte er Büschel von getrocknetem Basilikum über seinem Bett auf, aber auch Minze oder Lavendel …«

Die Mutter, inzwischen 93, ist Pharmazeutin von Beruf. Ihr ganzes Leben hat sie in einer Apotheke gearbeitet, doch hielt sie mehr von Kräutern als von Tabletten. Kein Wunder, denn ihre eigene Mutter - »die Babuschka«, die diesem Buch den Titel gibt - war eine Heilerin gewesen, eine jener Kräuterfrauen, die es in vielen Dörfern gab. Abbildungen im Buch zeigen Zettel mit handschriftlichen Notizen.

Tatjanas Kuschtewskaja, Autorin von mindestens zwei Dutzend Büchern über verschiedene russische Regionen und über Kulturgeschichte, zögerte lange, sich der Hinterlassenschaft ihrer Großmutter anzunehmen, obwohl die Mutter sie drängte. Aber wer das Buch zur Hand nimmt, wird merken, wie die Babuschka auch bei ihr Spuren hinterließ. Sie half ihr, als sie Masern hatte und später eine Blasenentzündung. Allein schon durch liebevolle Zuwendung ist viel getan, doch gerade davon bekommen viele Kranke heutzutage zu wenig. »Du musst in dich hineinhören«, sagte die Babuschka, »ergründen, was du wirklich willst, abwerfen, was die Seele belastet.« Letztlich kann man das nur selber tun. Aber diese Großmutter muss Sicherheit ausgestrahlt haben, weil ihr eine uralte, ererbte Erfahrung zur Verfügung stand.

Wer dafür grundsätzlich offen ist, wird Gewinn von diesem Buch haben. Veröffentlichungen über Heilpflanzen sind ja massenhaft auf dem Buchmarkt, und viele gleichen einander. Hier aber findet sich Überraschendes, Kurioses, manchmal fast Unglaubliches. Zusätzlich zu den Ratschlägen der Großmutter hat Tatjana Kuschtewskaja aus alten Folianten der Bibliotheken in Moskau und St. Petersburg Rezepte der russischen Naturheilkunde zusammengetragen. Zudem hat sie bei ihren längeren Aufenthalten in Sibirien auch dort Heilerinnen und Schamanen getroffen, die ihre Geheimnisse mit ihr teilten. Denn, das sagte ich schon in früheren Rezensionen, sie hat die Gabe, in einem besonderen Maße Menschenliebe auszustrahlen. So kommen ihr andere auf eine erstaunliche Weise entgegen.

Kann man wirklich mit drei Klettenblättern gegen Krampfadern vorgehen? Soll man es tatsächlich wagen, zur Stärkung der Sehkraft sich täglich einen Tropfen klaren Heidelbeersaft ins Auge zu tröpfeln? Das meiste wurde von der Autorin schon erprobt. Irgendwann werde ich wohl auch jene Paste gegen Zahnschmerzen zusammenrühren, die ihr geholfen hat. Manches kennt man, wie das berühmte Rezept mit Knoblauch und Zitrone. So ein einfaches Mittel wie der Saft roher Kartoffeln gegen Sodbrennen, Gastritis und sogar zur Blutdrucksenkung war mir indes noch fremd. Da hinter jedem Pflanzennamen auch die lateinische Bezeichnung steht, dürfte es für Experimentierfreudige nicht schwer sein, sich die Zutaten für Tees und Tinkturen aus der Apotheke zu beschaffen. Viel interessanter ist es natürlich, die Pflanzen selbst zu sammeln. Im Buch sind so viele Hausmittel zusammengestellt, dass man wohl niemals alle ausprobieren kann. Aber wenn man nur diejenigen nimmt, die auf den ersten Blick plausibel erscheinen, hätte man sich in ungeahnte Bewegung versetzt. Allein schon seiner Gesundheit Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen, kann Gutes bewirken. Mit dieser Erfahrung wird man dann auch anderen gütig entgegengehen.

Was die Autorin wahrscheinlich gar nicht von vornherein beabsichtigte: Das Buch ist eine Verbeugung vor den Vorfahren, eine Würdigung ihrer Weisheit, ein Versuch, davon etwas festzuhalten und weiterzugeben. Am Schluss stehen zwölf Regeln ihrer Mutter »für ein langes Leben«. Jeder mag für sich selbst entscheiden, wie im eigenen Alltag eine Balance herzustellen ist.

Tatjana Kuschtewskaja: Aus der Apotheke meiner Babuschka. Traditionelles aus der Naturheilkunde Russlands und der Ukraine. Zeichnungen von Jana Kuschtewskaja. Wostok Verlag. 120 S., br., 12 €.

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