Notnagelkoalition steht

GroKo-Unterhändler einigen sich auf 177 Seiten Vertrag und keinen Neubeginn

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 3 Min.
Von einer Großen Koalition in Deutschland zu verlangen, dass sie ihre Richtung ändert, wäre wohl ähnlich viel verlangt wie einen Gletscher zur Umkehr aufzufordern. Das zeigt der Koalitionsvertrag für die kommenden noch reichlich dreieinhalb Jahre, auf den sich die Unterhändler von CDU, CSU und SPD in einer 24-stündigen Schlussrunde am Mittwoch schließlich geeinigt haben. Die zur Koalition nunmehr entschlossenen Teilnehmer bekennen sich nach monatelanger demonstrativer Distanz zu ihrer Mission, der Fortsetzung ihrer in zwölf Jahren erprobten gemeinsamen Regierungsarbeit. Es war ja nicht alles schlecht ...

Im Vertrag loben sich die Koalitionäre selbstbewusst für ein Deutschland, dessen Zustand sie sich zugute halten und den sie selbstverständlich weiter verbessern wollen. Sie räumen ein, dass ihnen die gute Konjunkturlage dabei hilft, diesen Eindruck auch materiell zu untermalen. So klingt es, wenn einem der eigene Kurs als alternativlos gilt.

Wie ist der Vertrag zu bewerten, konnte man mehr erwarten oder musste man mehr befürchten? Das Urteil richtet sich wie immer nach dem Standort des Betrachters. Arbeitgeberverbandschef Ingo Kramer beklagte eine »dramatische Verschlechterung« gegenüber der Sondierungsvereinbarung. Arme Wirtschaft! Die Linkspartei auf der anderen Seite bemängelt, dass die großen Probleme des Landes von dieser »gelangweilten Koalition« kurzerhand liegen gelassen würden. Wachsende Ungleichheit im Lande werde die Folge sein.

Das nennt man dann wohl einen typischen Kompromiss, gemessen an der Arithmetik der Urteile. Ihre Warnung, dass letzte schmerzhafte Kompromisse warteten, hatte Kanzlerin Merkel vor der letzten Verhandlungsrunde offenkundig auch an die eigenen Reihen gerichtet. Zumindest machtpolitisch zeigte sie sich großzügig; die SPD erhält sechs Ressorts und damit ein Ministerium mehr als bisher, darunter das schwergewichtige Finanzministerium, was angesichts ihres Wahlergebnisses eine großzügige Höherstufung ist. Auch die CSU kann sich glücklich schätzen. Für CSU-Chef Seehofer muss Thomas de Maizière das Innenministerium räumen, das unter bayerischer Direktion künftig den Zusatztitel »Heimatministerium« erhält und auch für das Bauwesen zuständig ist. Die CDU begnügt sich mit fünf Ministerien plus Kanzleramt.

Im Vertrag, der den stolzen Umfang von 177 Seiten aufweist, finden sich dank der gegenseitigen Neutralisierung der Partner gleichzeitig schlimmere Auswüchse verhindert - und wirkliche Verbesserungen auch. Das kommt heraus, wenn man nur regiert, weil andere nicht wollten oder konnten, Jamaika gescheitert war. Die Koalitionäre selbst räumen Reformbedarf ein, so in der EU. Ein wirklicher Kurswechsel ist jedoch nicht vermerkt. Und so hört man den vielen Kritikern nun auch den Unmut über absehbar weitere verschwendete Jahre an - die Umverteilung von unten nach oben in den letzten Jahren wird nicht angerührt, geschweige denn umgekehrt, die Klimaziele für 2020 sind abgesagt, Aussicht auf einen Kurswechsel in der Rüstungspolitik gibt es nicht.

Und die Themen, zu deren Nachverhandlung ein Parteitag die SPD-Führung dringend aufgefordert hatte? Sind sie wenigstens umgesetzt? Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen wird nicht beendet, sie soll eingeschränkt werden, die Bürgerversicherung kommt nicht, eine Kommission soll bis Ende 2019 eine Lösung für die unterschiedliche Bewertung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung präsentieren. »Ob diese Vorschläge umgesetzt werden, wird danach entschieden.« Dies ist schwerlich ein Erfolg. Ebenso, wie der Familiennachzug für Bürgerkriegsflüchtlinge als drittes Herzensthema der SPD nicht über das von der Basis abgelehnte Maß hinausgeht, das die Sondierungsvereinbarung vorsah.

Angesichts dessen erspart SPD-Chef Martin Schulz sich nun auch die angekündigte Erneuerung seiner Partei. Er soll Außenminister werden. Andrea Nahles, Fraktionschefin im Bundestag, solle auch den Parteivorsitz übernehmen, hieß es. Das ist mutig von Schulz, wenn man den Mitgliederentscheid bedenkt, den der Koalitionsvertrag noch passieren muss. Oder das Gegenteil. In jedem Fall ist die Zustimmung der Basis alles andere als ausgemacht. Rund 24 000 Neumitglieder könnten ein Menetekel für die Führung sein.

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