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Sozialabbau? Egal!

Christoph Ruf blickt nach Frankreich und beobachtet eklatante Unterschiede im Protest gegen den fortwährenden Abbau sozialer Sicherungssysteme

»Lasst uns die Reichen besteuern« steht auf einem Plakat während einer Kundgebung der französischen Protestbewegung »Bloquons Tout« (Alles blockieren).
»Lasst uns die Reichen besteuern« steht auf einem Plakat während einer Kundgebung der französischen Protestbewegung »Bloquons Tout« (Alles blockieren).

Wenn man sieht, wie in Deutschland vielerorts über die Sozialproteste in Frankreich berichtet wird, möchte man sich vor Scham in den Mariannengraben versenken. Wer sich hierzulande in reichweitenstarken Medien über die Streiks und Demos gegen Macrons Kürzungs-Pläne informiert, muss den Eindruck bekommen, dass im Nachbarland hunderttausende infantile Trotzköpfe auf die Straße gehen anstatt endlich mal fleißig zu roboten. Da leben sie schon in einem paradiesischen Sozialstaat und sehen trotzdem nicht ein, dass der Gürtel eben enger geschnallt werden muss.

Wessen Gürtel? Was für eine Frage, schreibt man in Deutschland, der eigene natürlich. Stattdessen laufen diese Franzosen doch wie kleine Kinder auf die Straße und plärren ihren Unmut heraus. Pfui Teufel, da sind wir doch mal froh, dass wir in Deutschland leben, wo die Menschen klaglos den Rückbau des Sozialstaats hinnehmen und in leicht differierenden Proportionen genau die Parteien an der Macht halten, die für genau diese Politik stehen. Wir wissen halt, was Verantwortungsbewusstsein heißt.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.

Unter der Regentschaft von Emmanuel Macron haben die 500 reichsten Franzosen ihre Vermögen noch einmal verdoppelt, 2024 gab es 147 Milliardäre, deren Vermögen auf 1228 Milliarden Euro angewachsen ist. Währenddessen sind bei 90 Prozent der Franzosen Vermögen und Kaufkraft geschrumpft. Die Lebensmittel- und die Energiepreise sind explodiert, die Mieten sowieso. Im Großraum Paris gelten 20 Prozent der Bevölkerung als arm. Und einige von denen haben schlicht und einfach die Schnauze voll davon, sich von den wirklich Privilegierten erzählen zu lassen, dass ihre »Privilegien« – beispielsweise eine Rente, die unverschämterweise vor dem Tod angetreten werden darf – schuld seien am beklagenswerten Zustand der Staatsfinanzen.

In Frankreich, das stimmt, »dürfen« die Menschen mit 62 Jahren in Rente gehen. Wenn sie die volle Rente erhalten wollen, müssen sie das aber mit 67 Jahren tun. Wer später als 1972 geboren ist, muss 43 Beitragsjahre nachweisen. So viel zum Subtext in der wirtschaftsliberalen Presse, die den Menschen jenseits des Rheins kaum verklausuliert unterstellen, sie seien nun eben einfach fauler als wir Deutschen. Dabei ist ihre Selbstachtung nur noch nicht so vom Kapitalismus zurechtgeschliffen wie bei uns. Zumal Macrons Demokratieverständnis noch weit desaströser ist als die Staatsverschuldung.

Wir haben zwar einen ehemaligen Blackrock-Mann ins Kanzleramt gewählt, ohne dass seine Wähler das komisch fänden. Aber dass er in der Lage ist, so abgehoben und elitär wie Macron zu regieren, muss er erst noch beweisen. Der Präsident, der so gerne König wäre, hat nach den letzten Parlamentswahlen den Mehrheitswillen der Franzosen schlicht und einfach ignoriert. Die linke »France insoumise« war als stärkste Fraktion gewählt worden, zum Premierminister wurde von Macron allerdings ein Rechter ernannt. Auch das, nennen wir es Demokratiebewusstsein, treibt die Menschen auf die Straße.

Was in Deutschland passieren würde, wenn die Regierung mal wieder einen Sozialabbau vorbereiten würde wie in Paris? Ich tippe auf eine Onlinepetition und drei miserabel frequentierte Demos in Berlin, Hamburg und München.

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