Zwist zwischen nahen Verwandten
Andreas Kappeler über die schwierige Geschichte von Russen und Ukrainern
Die Ukraine strebt nach Westen, ihre Führung drängt auf rasche Mitgliedschaft in EU und NATO, während Russland sein Heil im Osten sucht, auf die Eurasische Wirtschaftsunion und die Partnerschaft mit China setzt. Die Separatisten in der Ostukraine riefen kürzlich einen Staat »Kleinrussland« aus. Die Ukraine-Krise wird uns noch lange beschäftigen, umso wichtiger ist es, ihre Ursachen und Hintergründe zu kennen. Es handelt sich nicht nur um Geschichte, sondern auch um Geschichtspolitik, das heißt Versuche, die Geschichte im jeweiligen Interesse zu interpretieren.
In seinem jüngsten Buch geht es dem Schweizer Historiker Andreas Kappeler um die Geschichte der russisch-ukrainischen Wechselbeziehungen, ihre gegenseitige Verflochtenheit. Bereits in Quellen des 17. Jahrhunderts taucht der Begriff der »Brudervölker« auf. Russen und Ukrainer sind nahe Verwandte, ihre Sprachen gehören zusammen mit dem Weißrussischen zur Familie der ostslawischen Sprachen. Historisch haben sie einen gemeinsamen Ursprung: die mittelalterliche Kiewer Rus, einen Herrschaftsverband, der in Osteuropa im 9. Jahrhundert entstand und schließlich unter Großfürst Wladimir christianisiert wurde.
Aber hier beginnt schon der Streit, eine Art Erbstreit. Ausgehend von der Staatsgründung in Kiew, sehen ukrainische Historiker und Politiker die Ukraine als Erbin der alten Rus, während diese in Russland als altrussischer Staat gedeutet wird. Kappeler hält den Streit für unergiebig, »denn von beiden Seiten werden nationale Kategorien zurück ins Mittelalter projiziert, als von Russen und Ukrainern noch keine Rede sein konnte«. Zwar liege Kiew, der erste zentrale Fürstensitz der alten Rus, in der heutigen Ukraine, deren zweites Zentrum Nowgorod jedoch im heutigen Russland. Die Trennung begann, als die Mongolen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die russischen Fürstentümer im Osten und Norden eroberten, während die im Westen und Südwesten unter die Herrschaft des Großfürstentums Litauen bzw. des Königreichs Polen kamen: »Die gemeinsame Wiege der Kiewer Rus zerbrach, die Trennung in unterschiedliche Staaten und Kulturräume verstärkte die ethnische Differenzierung und schuf die Grundlage zur Formierung einer russischen und ukrainischen Nation.«
Während sich im Osten das Großfürstentum Moskau im 15. und 16. Jahrhundert von der mongolischen Vorherrschaft befreite und zum Zarenreich mutierte, bildeten in den südlichen Steppen vor allem entlaufene Bauern Grenzergemeinschaften, die auch Verteidigungsaufgaben gegen Krimtataren und Türken übernahmen - die Kosaken. Hier rührt auch der Landesname her, denn Ukraine bedeutet auf Russisch »an der Grenze«. Unter der Führung des Hetmans Bogdan Chmelnitzkij (1595-1657) befreiten die Kosaken schließlich den größten Teil der Ukraine von polnischer Herrschaft und schlossen sich mit dem Vertrag von Perejaslaw (1654) dem Zarenreich an. Die Ukraine spielte nun eine wichtige Rolle bei der kulturellen Entwicklung Russlands. Mit dem Vorstoß des Imperiums ans Schwarze Meer und den Teilungen Polens gerieten weitere Gebiete der heutigen Ukraine unter russische Herrschaft.
Als »Kleinrussland« war die Ukraine Teil des Reiches, während sich im 19. Jahrhundert eine ukrainische Nationalbewegung entwickelte, die auch in ukrainischsprachiger Literatur ihren Ausdruck fand. Aus den Wirren von Revolution und Bürgerkrieg - die Ukraine war einer seiner Hauptschauplätze - ging schließlich die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik als Teil der UdSSR hervor. Die Republiksbildung erfolgte nach Sprachnationen, wobei sich die Grenzziehung als schwierig erwies, da sich die Sprachgruppen oft mischten, was besonders für den Donbass und Südrussland gilt. Während die Ukrainer im Zarenreich als Teil des all-russischen Volkes galten, waren sie nun als Nation mit eigenem Territorium und nationaler Sprache anerkannt.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde die fiktive Grenze allerdings zur Staatsgrenze. Die Präsidenten von Belarus, Russland und der Ukraine besiegelten Anfang Dezember 1991 im Wald von Belowesh das Ende der UdSSR. Nach Meinung des Autors hätten sie »den sowjetischen Staat als Bundesstaat, verkleinert um das Baltikum und den Südkaukasus, retten können«. Denn der Untergang war nicht unvermeidlich, zumal er von einer Mehrheit der Politiker und Bürger Russlands nicht begrüßt wurde. Auch nach der Unabhängigkeit konnten sich die meisten Ukrainer lange nicht daran gewöhnen, dass Russland zum Ausland geworden war.
Zu einer Wende in den Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine kam es schließlich mit der Orangenen Revolution von 2004 und den Maidan-Ereignissen 2013/14. Im Wesentlichen bringt der Autor hier die entsprechenden Fakten, ohne aber auf die Hintergründe einzugehen; die aktive Rolle der USA und der EU verweist er »ins Reich der Verschwörungstheorien«. Was Russland betreffe, so sei aber nicht von der Hand zu weisen, dass der Westen mit der Osterweiterung der NATO und der EU dessen Sicherheitsinteressen missachtet habe.
Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, 267 S., br., 16,95 €.
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