Ratten in Berlin

Paris mag die Stadt der Liebe sein, Berlin ist die Metropole von Toter Oma

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Berliner Esskultur ist, wie jeder weiß, legendär. Sie ist über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Von Berlin aus hat zum Beispiel der Döner den Siegeszug um die Welt angetreten. Auch die Currywurst wird selbst in New York (mutmaßlich) und in Rosenheim (ganz sicher) verkauft. Die Berliner Bäcker und Fleischer sind bekannt für ihr abwechslungsreiches Angebot und für die raffiniertesten Produkte. Schwaben, Franken, Türken und Franzosen strömen daher seit Jahrhunderten in die Stadt an der Spree, um sich den kulinarischen Hochgenüssen hinzugeben. Paris mag die Stadt der Liebe sein, Berlin ist die Metropole von Toter Oma, Ketwurst und panierter Jagdwurst mit Sättigungsbeilage.

An all dem ist alles richtig - nur dass beispielsweise der von einem türkischen Einwanderer in Berlin erfundene Döner Kebab (in Form einer Fleischbeigabe in einer Teigtasche) in Berlin eigentlich nicht genießbar ist. Man muss schon weit weg fahren, z.B. nach Franken, um ein annehmbares Produkt dieser Speise zu erhalten.

Aber der Berliner ist erfinderisch - und probiert immer wieder Neues aus. Ratten etwa sind durchaus genießbar. Nun gut, nicht die, an die jetzt die meisten denken (man weiß ja nie, ob ihr Fleisch nicht durch die ausgelegten Giftköder gesundheitsschädlich ist), sondern jene, die zur Familie der Stachelratten (Echimyidae) gehören. Ursprünglich stammen die bis 10 Kilogramm schweren und 65 Zentimeter langen Nager aus Südamerika. Hierzulande sind sie seit gut 100 Jahren heimisch. Eigentlich wurden sie wegen ihres Pelzes nach Europa verschleppt, aber ihr Fleisch ist durchaus schmackhaft, und weil »Stachelratte« nicht unbedingt verkaufsfördernd klingt (weder beim Verkauf von Pelzen noch bei dem von Gebratenem) heißt das possierliche Tierchen in Berlin (und anderswo) Myocastor coypus, kurz: Nutria.

Die Nutria (seltener auch: der Nutria) lebt zum Beispiel im Spreewald. Wo genau, will ich gar nicht wissen, aber mein Nutria-Koch schwört, dass es »1-A-Ware« ist, die ihm ein Jäger aus dem Spreewald geliefert habe. Der Nutria-Koch heißt Sven (sein Nachname tut nichts zur Sache), betreibt die auch wegen seiner anderen Speisen (vom Holsteiner Schnitzel und Spareribs bis zur Pasta mit Garnelen und Sonnenblumenkernen) empfehlenswerte Lokalität J. A. S. (das »S« steht für Sven, die Inhaber der beiden anderen Initialen haben sich schon vor Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen, aber S. wäre kein schöner Name für eine Gaststätte) und schwärmt vom Geschmack des Nutria-Fleisches.

Recht hat er. An Wurzelgemüse und Kartoffeln im Bratensud ist der Riesen-Nager eine Delikatesse. Außerdem sorgt das Bild einer lebenden Nutria, verschickt über den Familien-SMS-Chat und versehen mit der Versicherung, wie lecker der Braten geschmeckt habe, für lustige Reaktionen im fernen Franken. Eine Alternative zum Wildschwein ist Nutria allemal - und vielleicht irgendwann einmal ein Exportschlager wie Döner und Currywurst.

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