Kalte Winter im Süden, warme im Norden

Wie der Polarwirbel unser Wetter reguliert. Von Gert Lange

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 5 Min.

Während wir uns noch im Januar gefragt haben, wo dieses Jahr der Winter bleibt und im Februar nur ein milder Frost die Autofahrer störte, klagen die New Yorker über zu viel Schnee und Eis. Sogar in Florida hat es geschneit. Die Polarforscher auf Spitzbergen wiederum ärgern sich, weil vor ihren Füßen das Wasser plätschert und der Kongsfjord nicht mehr zufriert, über den sie in den 90er Jahren noch mit Skiern oder Motorschlitten gefahren sind. Viele dieser Wetterkapriolen haben ihre Ursache in der atmosphärischen Zirkulation um den Nordpol.

Was sich in den letzten Dezennien in der Arktis ereignet hat, ist atemberaubend. »Für die Wintermonate haben wir über die Zeit, in der wir in Ny-Ålesund auf Spitzbergen messen, eine Erwärmung von mehr als drei Grad Celsius pro Dekade registriert«, erklärt Markus Rex. Er leitet die Atmosphärengruppe der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI), die klimatische Veränderungen in Polarregionen und deren Auswirkungen auf die mittleren Breiten untersucht. Marion Maturilli, für das Meteorologische Observatorium in Ny-Ålesund verantwortlich, verweist darauf, dass die durchschnittliche Jahrestemperatur um 1,4 Grad Celsius pro Dekade gestiegen ist. »Demgegenüber liegt die Erwärmung im globalen Mittel noch unter einem Grad. Dramatisch ist, dass sich die Jahresmittelwerte auf Spitzbergen dem Nullpunkt nähern. Das hat krasse Folgen für die Landschaft.«

Keine Region der Erde erwärmt sich so schnell wie die Arktis. Die große Frage: Warum? Die deutsch-französische Forschungsbasis AWIPEV - ein Akronym aus den Initialen des Alfred-Wegener-Instituts und dem Institut Polaire Emile Victor - liegt in einem Zentrum des Geschehens, nur etwa tausend Kilometer vom Nordpol entfernt, gute Voraussetzung für die Suche nach Antworten.

Schnell war klar, dass sich die Energiebilanz am Boden verändert hat. Offensichtlich hat sich die Wärmestrahlung aus der Atmosphäre erhöht, sodass die Landoberfläche wärmer wird. Doch wieso? Die Sonne hat im Winter kaum Einfluss, da ist ja Polarnacht.

Die Nordpolarregion umkreist in etwa fünf Kilometern Höhe ein starkes Westwindband, allgemein als Polarwirbel bezeichnet. Er schließt die kalten Luftmassen am Pol ein. Lange Beobachtungen zeigten, dass dieses Band in der hohen Troposphäre mäandert. Es kommt zu Ausbuchtungen nach Süden und Einbuchtungen Richtung Norden. Man spricht dann von einem »meridionalen Zirkulationsmuster«, weil sich die Temperaturunterschiede entlang der Meridiane verschieben.

Die starke Erwärmung der Polargebiete im atlantischen Sektor ist auf ein Ausschweifen dieses Windbandes nach Norden zurückzuführen. Dadurch dringen wärmere Luftmassen aus dem Atlantik bis nach Spitzbergen, manchmal bis zum Nordpol vor. Doch der Einstrom geht nicht ohne Kaltluftausbrüche in anderen Regionen vor sich, etwa über Kanada und Nordamerika, wie wir es zurzeit und in vergangenen Jahren des Öfteren hatten. Anstelle des »zonalen« Musters tritt im letzten Jahrzehnt häufiger das »meridionale« Muster auf. Das macht auch mancherlei extreme Wetterlagen in mittleren Breiten verständlich. In Europa hat es ja auch schon intensive Kaltphasen gegeben.

Allerdings erklärt der Einstrom warmer Luft weit über den Polarkreis allein noch nicht, warum die Temperaturen gerade im arktischen Winter so unverhältnismäßig steigen. Ein wichtiger Faktor sind die veränderten Wolken. Weil die Eisdecke des Arktischen Ozeans im Sommer schrumpft und dünner geworden ist, steigt mehr Wasserdampf auf. Überdies bringen die warmen atlantischen Winde mehr Feuchtigkeit mit sich. Gleiches geschieht durch den Wasserdampf, der auf Aerosolpartikeln kondensiert, die zumeist aus Industrie- und Verkehrszentren im Süden herangetragen werden. Insofern hat der Mensch unmittelbaren Anteil an der Erwärmung der Arktisregionen.Es bilden sich Wolken aus feinsten Wassertröpfchen, die im Unterschied zu Eiswolken mehr Energie zurückstrahlen.

Was sich dabei an den Grenzschichten tut, ist noch weitgehend unbekannt. Den Potsdamer Forschern liegt daran, die Mechanismen aufzuklären, d. h. detaillierte Energiebilanzen zu erarbeiten. Die Klimamodelle sind im Moment nicht in der Lage, die beobachteten dramatischen Veränderungen zu reproduzieren. »Wir gehen davon aus, dass die Wechsel der Zirkulationsmodi sehr wahrscheinlich eine Folge des globalen Klimawandels sind«, sagt Markus Rex, »denn sie hängen zusammen mit vertikal gekoppelten Energieflüssen.«

Die Auswirkungen der veränderten Zirkulationsmuster auf die Lebensverhältnisse werden enorm sein. Wenn der Trend mit drei Grad Erwärmung pro Dekade anhält, wird die Arktis in dreißig Jahren anders aussehen. Nicht nur günstige Schifffahrtsrouten könnten genutzt werden, Fischereiflotten hätten neue Fanggründe, Rohstoffe würden gefördert, die Infrastruktur ausgebaut. Schon heute liegt das ökonomische Wachstum der Arktis weit über dem globalen Mittelwert. Zwar noch auf niedrigem Niveau, aber das kann sich angleichen. Das weltweit tätige New Yorker Investmentunternehmen Guggenheim Partners schätzt ein, dass in den nächsten zwanzig Jahren etwa eine Billion Euro in die Arktis investiert wird.

Im Herbst 2019 startet das Alfred-Wegener-Institut ein großes Projekt: Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate (MOSAiC). Der Forschungseisbrecher »Polarstern« lässt sich im Meereis vor der sibirischen Küste einfrieren und driftet ein Jahr lang über die Polarkappe. Dabei sitzt die »Polarstern« wie eine Spinne in einem Netz von Außenstationen, die per Hubschrauber oder Motorschlitten zu erreichen sind. Hunderte von Parametern werden gemessen, alle denkbaren Disziplinen sind beteiligt. Die aufwendige Expedition wird von Potsdam aus geleitet, Markus Rex ist Koordinator. »Wir sind bisher mit unserer Klimaforschung noch nicht tief genug in die zentrale Arktis vorgedrungen«, resümiert er. »Wir müssen herausfinden: Wie hoch ist denn die thermische Rückstrahlung aus der Atmosphäre im Winter und übers Jahr. Welche Energieflüsse spielen sich ab zwischen Ozean, Eis und Luftschicht? Das hat noch keiner gemacht.«

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