Frau Gissel ist schwer in Ordnung

Sozialministerin Golze übergibt erste Korrekturhülle für den Schwerbehindertenausweis

Die 14-jährige Hannah Kiesbye, ein Mädchen mit Down-Syndrom aus dem schleswig-holsteinischen Pinneberg, ärgerte sich über die Bezeichnung ihres Schwerbehindertenausweises. Sie bastelte sich eine Hülle, sodass jetzt zu lesen war: »Schwer-in-Ordnung-Ausweis.«

Die 35-jährige Theresa Gissel sitzt im Rollstuhl und lebt in Cottbus. Sie hat sich mit einer Freundin unterhalten, die in einer Zeitschrift von der Aktion der 14-Jährigen Hannah gelesen hatte. »Vorher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht«, sagt Theresa Gissel. »Aber eigentlich hat Hannah recht.«

Fakten
  • In Brandenburg leben 459.000 behinderte Menschen.
  • 330.000 Einwohner gelten als schwerbehindert.
  • 268.000 Brandenburger besitzen einen Schwerbehindertenausweis.
  • Das Landesamt für Soziales und Versorgung bewilligt Schwerbehindertenausweise und Zuschüsse für Ferienreisen, hat die Aufsicht über die Pflegeheime im Land und bearbeitet beispielsweise auch EU-Förderprogramme.
  • Monatlich rufen 37.000 Bürger das Landesamt an. af

Gissel besitzt für ihren Schwerbehindertenausweis nun auch eine Hülle mit dem Aufdruck »Schwer-in-Ordnung-Ausweis«. Diese Hülle musste sie sich nicht selbst anfertigen, die hat sie am Freitagmorgen von Sozialministerin Diana Golze (LINKE) ausgehändigt bekommen. Hamburg hat in Reaktion auf Hannahs Vorstoß als erstes Bundesland solche Hüllen ausgegeben. Rheinland-Pfalz und Niedersachsen haben nachgezogen. Brandenburg fackelte nicht lange und bietet die Hüllen nun auch an. Theresa Gissel muss ihren Ausweis in Bus und Bahn den Fahrscheinkontrolleuren vorzeigen oder ihn vorlegen, wenn sie ins Kino oder ins Konzert geht, denn sie ist berechtigt, eine Begleitperson umsonst mitzunehmen. Die 35-Jährige rechnet nicht mit Irritationen wegen des Hüllenaufdrucks, glaubt im Gegenteil, dass dies positiv aufgenommen wird.

Ministerin Golze, die als Vorgesetzte regelmäßig zu Besprechungen ins Landesamt für Soziales und Versorgung (LASV) nach Cottbus kommt, nutzt die Gelegenheit am Freitag für die Übergabe der ersten Hülle an Gissel. Die Initiative sei »großartig«, schwärmt Golze. »Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Es ist fatal, einen Menschen nur auf eine Behinderung zu reduzieren. Aber leider passiert das sehr oft in unserer Gesellschaft.« Viel werde nachgedacht, wie für dieses Thema sensibilisiert werden könne. »Aber es kann so einfach sein«, stellt Golze mit Blick auf die Ausweishülle erstaunt und erfreut fest. Gleich den Ausweis selbst verändern, das darf das Land Brandenburg nicht. Denn die Bezeichnung »Schwerbehindertenausweis« und seine Gestaltung sind bundeseinheitlich vorgeschrieben. Doch Ministerin Golze fände es gut, wenn die Hüllenaktion eine Debatte darüber auslösen würde, ob das Dokument nicht künftig Teilhabeausweis heißen könnte.

Noch eine andere wichtige Neuerung gibt es. Das Landesamt für Soziales und Versorgung stellt auf elektronische Akten um. Zunächst geschieht dies bei der Beantragung von Schwerbehindertenausweisen. Seit dem 5. Februar werden eingehende Anträge und zugehörige Arztbefunde eingescannt und elektronisch weiterbearbeitet. Dafür gibt es in Haus 5 des Amtes an der Lipezker Straße 45 einen extra Raum, in dem mit drei Hochleistungsscannern je 70 Seiten pro Minute erfasst werden können. Die Arbeit der drei Kollegen hier läuft wie am Schnürchen.

Im Bürgerbüro in Haus 6 ist derweil nichts los. Der Warteraum ist leer, wie freitags häufig. Mitarbeiterin Kerstin Schliephake bearbeitet also die neuen elektronischen Akten und hat ein paar Minuten Zeit, um vorzuführen, wie das mithilfe von zwei Bildschirmen funktioniert. Selbstverständlich gab es anfangs kleinere Schwierigkeiten. Doch »es läuft immer besser«, verrät Schliephake.

LASV-Präsidentin Liane Klocek berichtet von den zahlreichen Vorteilen: Bislang mussten haufenweise Akten durch die Flure getragen werden. Das Erdgeschoss von Haus 6 ist voll mit Aktenschränken, schließlich gehen pro Jahr 2,5 Millionen Seiten Papier ein, und diese müssen aufgehoben werden - bis das Amt vom Tod des Betreffenden erfährt und dann noch zwei Jahre lang. Außerdem kann die Arbeit unter den 400 Beschäftigten am Hauptsitz in Cottbus und in den Außenstellen in Potsdam und Frankfurt (Oder) nun unkompliziert verteilt werden.

Die neue Technik soll auch die Bearbeitungszeiten verkürzen. Im Moment dauere es 3,2 Monate von der Beantragung bis zur Bewilligung eines Schwerbehindertenausweises, erläutert Klocek. Nicht weil die Beschäftigten bummeln, sondern zum Beispiel, weil Ärzte die benötigten Befunde nicht umgehend einreichen und gemahnt werden müssen. Klocek hofft, dass die Bearbeitungszeit durch die E-Akte auf 2,7 Monate gesenkt werden kann. Die E-Akte erlaubt es den Bürgern, den Bearbeitungsstand im Internet abzufragen, so wie die Lieferung eines Paketdienstes online verfolgt werden kann.

Die Hülle »Schwer-in-Ordnung-Ausweis« können Brandenburger Schwerbehinderte kostenlos per E-Mail bestellen: service@lasv.brandenburg.de

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