Langer Kampf für Heimbewohner

Ernüchternde Bilanz: Noch immer ist eine menschenwürdige Grundversorgung in Pflegeeinrichtungen nicht überall die Regel

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 4 Min.

München, Klenzestraße 57 c. Das »c« steht für den zweiten Hinterhof und dort ist im Erdgeschoß der ambulante Pflege- und Beratungsdienst »Vereinigung Integrationsförderung« angesiedelt. In einem der Büroräume mit Fenster zum betonierten Hof sitzt Claus Fussek und telefoniert, die Kopfhörer auf den Ohren. Sein Telefon ist die Verbindung hinaus zur Welt der Pflege. Am anderen Ende der Leitung sprechen Angehörige von Pflegenden, Krankenschwestern, Altenpfleger. Viele der Klagen greift Fussek auf, bringt sie an die Öffentlichkeit, setzt sich für Verbesserungen ein.

Das macht der Sozialpädagoge seit vielen Jahren, und es hat ihm den Ruf als »Pflegekritiker«, »Pflegeexperte« oder gar »Pflegepapst« eingebracht. Fussek, der im Februar 65 Jahre alt wurde, zieht eine ernüchternde Bilanz: »Es hat sich nicht wirklich viel gebessert.«

Es scheint eine Liste von Selbstverständlichkeiten: Jeder solle täglich seine Mahlzeiten und ausreichend Flüssigkeit in dem Tempo erhalten, in dem er kauen und schlucken kann. Jeder kann, so oft er es wünscht, auf die Toilette. Jeder solle täglich gekämmt, gewaschen und angezogen werden. Jeder müsse täglich die Möglichkeit haben, das Bett zu verlassen. Jeder müsse die Möglichkeit haben, seinen Zimmerpartner auszusuchen. Selbstverständlichkeiten sind es mitnichten, meint Claus Fussek. Er hatte 2002 diese Mindestanforderungen für eine menschenwürdige Grundversorgung in Pflegeheimen formuliert. Seit rund 20 Jahren, so seine Kritik, sehe die Wirklichkeit anders aus.

Da ist von wund gelegenen alten Menschen in den Heimen die Rede, von mangelnder Zuwendung, von überfordertem Pflegepersonal, von zu wenig Zeit für die Pflege. »In sehr vielen deutschen Pflegeheimen liegen alte, hilfebedürftige Menschen immer noch stundenlang in ihren Ausscheidungen«, kritisiert Fussek. Windeln oder Dauerkatheter seien als pflegeerleichternde Maßnahmen menschenunwürdig und erfüllten den Tatbestand der Körperverletzung. Sicherlich gebe es auch gute Heime mit Vorbildfunktion. Dort herrsche eine andere Atmosphäre: »Der Krankenstand und die Fluktuation der Mitarbeiter sind dort viel geringer«, weiß Fussek, und das wirke sich auch auf die Pflege aus. Wenn sich die Angehörigen kümmern, entstünde eine Art Frühwarnsystem, wodurch Missstände vermieden werden können. Voraussetzung sei freilich, das sich das Heim nahe dem Wohnort der Verwandten befindet. Und woran mangelt es in der Pflege? Zum Beispiel an der Ausbildung des Personals, meint Fussek: »Wegen des Pflegenotstands nehmen die Pflegeschulen alle, die kommen.« Aber nicht alle seien für diesen Beruf wirklich geeignet.

Der Sozialpädagoge hat seine Argumente schon oft vorgetragen: In unzähligen Interviews, als Gast in Talkshows, als Redner vor Pflegekräften und Pflegemanager. So oft, dass er manchmal zu Journalisten sagt: »Ach, nehmen Sie doch dieses Interview von vor zehn Jahren, da steht alles drin, und es ist noch immer gültig.« Nicht immer stößt er mit seiner Kritik auf offene Ohren. Manche werfen Fussek vor, er zeige die Pflege nur als Problem, lasse kein gutes Haar daran und stoße die Pfleger vor den Kopf. »Welche Bilder und Vorstellungen laufen vor dem geistigen Auge ab, wenn Claus Fussek das Berufsumfeld von Pflegekräften ausschließlich in schwarzen Farben malt? Wenn er mit unseren allertiefsten Ängsten spielt?«, heißt es etwa in einem Kommentar zu einem Vortrag von Fussek auf einer Führungskräftetagung. »Ich sehe mich nicht als Vertreter der Pflegekräfte, sondern der pflege- und schutzbedürftigen Menschen«, erwidert Fussek auf solche Vorwürfe und verweist darauf, dass es eben auch vorbildliche Einrichtungen gebe.

Fussek hat in München an der Katholischen Fachhochschule Sozialpädagogik studiert und 1978 den Pflegeverein mitbegründet, in dem er heute noch tätig ist. Der verheiratete Vater zweier Kinder hat auch in der eigenen Familie Pflegefälle: Der 96-jährige Vater und die 87-jährige Mutter wohnen zu Hause und werden dort von einer Frau aus Osteuropa versorgt. In seinem Büro wird deutlich, dass das Thema Pflege zu seinem Lebensinhalt geworden ist: Überall stapeln sich Papiere und Zeitungsausschnitte zum Thema. An der Wand hängt ein Bild des verstorbenen Kabarettisten Dieter Hildebrandt. Mit ihm war Fussek freundschaftlich sehr verbunden. Einen Spruch von Hildebrandt münzt er gerne auf das Pflegesystem um, wobei er schon mal von »Pflegemafia« spricht: »Wer überall die Finger drin hat, kann keine Faust mehr ballen.«

Claus Fussek wirkt ein wenig resigniert, was seinen Kampf gegen Pflegemissstände anbelangt. Eine Medaille hat er schon zurückgegeben - aus Protest, dass sich seiner Meinung nach nichts ändert. Andere, darunter das Bundesverdienstkreuz, hat er noch. Sein Blick in die Zukunft ist eher deprimierend. Aktive Sterbehilfe statt Pflege, bringt er es auf den Punkt: »Weil dann niemand mehr da und bereit ist, uns zu pflegen.« Weitermachen will er trotzdem, das Thema gute Pflege wird ihn auch nach Erreichen des Rentenalters beschäftigen, ist sich Fussek sicher.

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