Wohin mit der Kunst?

Das Archiv Bildende Kunst verwaltet Vor- und Nachlässe im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte.

  • Astrid Kloock
  • Lesedauer: 7 Min.

Bilder berühren unsere Seele. Albrecht Dürers »Betende Hände«, HAP Grieshabers »Der große Fries«, Caspar David Friedrichs »Mönch am Meer«, Wolfang Mattheuers »Die Ausgezeichnete«. Die Künstler sind schon lange gestorben, ihre Werke leben. Wir haben sie bewahrt. Wir brauchen die Kunst. Eine Gesellschaft, die auf sie verzichtet, betröge sich um Kreativität, Aufgeschlossenheit, freien Geist.

Wer bin ich? Kunst und Kultur können darauf eine Antwort geben. Norbert Lammert, Ex-Bundestagspräsident, nennt sie, Kunst und Kultur, das humanistische Gedächtnis einer Gesellschaft. Aber wo bewahren wir sie? In Deutschland leben etwa 70 000 Künstlerinnen und Künstler. Die Frage der Künstlernachlässe wird mit zunehmender Dringlichkeit diskutiert. Zum Beispiel im Dezember 2015 auf dem Symposium, zu dem der Bundesverband Bildender Künstler in Kooperation mit der Akademie der Künste geladen hatte. »Wenn man in ein gewisses Alter kommt, möchte man seine Sachen regeln. Wem sollte man es sonst zumuten? Das ist der berühmte Vorlass, da bin ich dabei«, sagt der Grafikdesigner Klaus Staeck. Ein Berufskollege ergänzt: »Machen wir uns nichts vor, die Nachlassdebatte ist eine grausame. Aber wir müssen uns ihr stellen, ganz konkret, ohne dass wir depressiv werden, ohne dass wir bei der Formulierung des Wortes Nachlass aus dem Fenster springen.«

Vorlass. Nachlass. Rationale Begriffe. Und doch machen sie Herzklopfen. In ihrer Bedeutung liegen sie auf einer Ebene mit Patientenverfügung, Organspende, Testament. Der Klartext heißt: Ich bin sterblich und muss mich kümmern. Die Bewahrung von Literatur hat schon eine längere Geschichte; das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar gibt es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die Bildende Kunst jedoch hat Nachholbedarf.

Die »Mutter aller Kultur-Horte« ist das interdisziplinäre Archiv für Kunst und Kultur, die Akademie der Künste in Berlin, besteht seit 1900 im deutschen Sprachraum, seit 2004 in Trägerschaft des Bundes. Andere Aufbewahrungsorte für die Kunst - Museen, Stiftungen, private Sammlungen - sind im Lande verteilt. Generell sind Museen und ihre Depots randvoll. Ihre Kapazität ist begrenzt, egal, ob es sich um die Nagelkunst von Günther Uecker handelt oder um das Nashorn Clara aus der Menagerie von Jean Baptiste Oudry, das mit seinen Ausmaßen jeden Türrahmen sprengt, bevor es zur Hängung kommt.

Kunst braucht Raum und muss in die Welt. Der legitime Wunsch der Künstlerinnen und Künstler, eine Botschaft zu senden und unsterblich zu sein, braucht seinen Ort, denn es geht, wie Norbert Lammert sagt, um das humanistische Gedächtnis einer Gesellschaft. Wohin also mit dem Erbe?

»Kunst bewahrt man am besten dort, wo sie entsteht. In der Region. Die Ateliers unserer Künstlerinnen und Künstler sind zum Überlaufen voll. Das passt in kein Museum«, sagt Heide-Marlis Lautenschläger, Malerin aus Zachow, Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Die Galeristen können nur absetzen, was auf dem Markt einen Wert hat. Aber die Bilder in den Schubladen und Schränken sind gemaltes Leben. Das ist ihr Wert. Sie haben Farbe und Gesichter. Zeigen Alltag und Sonntag. Zeigen, wie es in der Trümmerzeit ausgesehen hat, als der Krieg gerade vorbei war, und was daraus wurde, als sich der Osten berappelte. Junge Künstler kamen von der Hochschule aufs Land, um Leben in die Pampa zu bringen. Etliche sind geblieben, weil es hier schön ist. Schriftsteller haben darüber geschrieben, Maler haben es auf die Leinwand gemalt. Was die Kunst leistet, erfasst keine Statistik. Von all dem ist Lautenschläger überzeugt.

Im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte leben etwa einhundert Künstlerinnen und Künstler. Der Kreis hat die größte Flächenausdehnung und die schwächste Besiedlung. Man sagt ihm nach, dass er der ärmste sei. Eigentlich wäre hier genau der Ort, wo es ein Angebot gibt für jeden sterblichen Künstler. Hier gibt es das erste Archiv im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, das sich mit dem Vorlass und dem Nachlass für bildende Künstler beschäftigt.

Heide-Marlis Lautenschläger hat den Funken geschlagen. Das Archiv Bildende Kunst - MSE (Mecklenburgische Seenplatte) wurde im Oktober 2015 gegründet. Es hat seinen Sitz in der Kreisstadt Neubrandenburg. Die Trägerschaft liegt beim Landkreis. Die Initiative hat 32 Mitglieder, darunter Museologen, Lehrer, Personen aus Politik und Wirtschaft und natürlich Künstlerinnen und Künstler. Ihr Ziel ist es, regionale Kunst- und Kulturgeschichte zu dokumentieren und sie Forschung und Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Es ist der Ort, wo neben wichtigen Arbeiten aus den unterschiedlichen Schaffensperioden auch Skizzen, Briefe, Dokumente, Rechnungen und Haushaltsnotizen bewahrt werden, eben alles, was ein Künstler in seiner Lebenszeit angesammelt hat. Damit unterscheidet sich das Vor- und Nachlassarchiv von Museumshäusern, die in erster Linie dem Schauwert verpflichtet sind; darin liegt ihre Bedeutung für die Gesellschaft. Die Mitglieder der Initiative arbeiten ehrenamtlich. Der Landkreis ist bisher ihr einziger Förderer. Seine Trägerschaft endet 2020. Bis dahin muss die Initiative eine Stiftung finden, damit das humanistische Gedächtnis nicht unter die Räder kommt.

»Zum ersten Mal kam ich mit dem Erbe-Thema bei meiner Arbeit mit dem Fallada- und dem Marga-Böhmer-Nachlass in Berührung«, sagt Lautenschläger. »Ich hab es jahrelang verdrängt, aber es gärte in mir und musste raus.«

Die Malerin redet mit ihren Künstlerfreunden. Das Problem geht alle an. Die einen verschreckt es. Es malt den Charon an die Wand. Die anderen erleichtert es. Es löst ein Problem - wohin mit der Kunst. Nicht jeder bekommt nach dem Tod wie Picasso oder Munch ein eigenes Haus geschenkt. Nicht jeder hat Kinder, die das Erbe verwalten können oder wollen. Aber keiner möchte ganz und gar in den Äonen untergehen.

Im Mai 2013 warben sie, Lautenschläger und Freunde, mit einer Verkaufsausstellung und Auktion in der Kachelofenfabrik Neustrelitz für ihr Vorhaben. 20 Künstler beteiligten sich. Das brachte eine Anschubfinanzierung von 3000 Euro. »Es war ein Fest«, sagt Lautenschläger, »nach der Wende kam es selten vor, dass so viele Künstler eine gemeinsame Ausstellung haben und sich gemeinsam freuen.«

Die Initiative Archiv Bildende Kunst arbeitet in drei Räumen in der Pestalozzischule in Neubrandenburg. Dort stehen ihr circa 250 Quadratmeter Arbeitsfläche zur Verfügung. Der erste Vorlass ist fachgerecht archiviert. Karl-Heinz Wenzel, Jahrgang 1932, Maler und Grafiker. Zum 85. Geburtstag des Künstlers im August 2017 zeigte die Initiative im Kulturquartier Neustrelitz eine Ausstellung aus dem Vorlass-Konvolut: Tafelbilder aus den frühen Schaffensjahren, Druckgrafiken, Naturstudien, Skizzen. Eine viel beachtete Ausstellung und das erste Auftreten der Initiative in der Öffentlichkeit. Premiere gelungen.

Und es geht weiter. Auf dem Plan 2018 steht der Vorlass von Gertraud Wendlandt, Bildhauerin, 66 Jahre. Ein dritter Vorlass ist in Arbeit: Wolfram Schubert, 92. Er malt und malt und freut sich, dass sein druckgrafischer Nachlass im Archiv MSE einen Ort gefunden hat.

Die Arbeit mit dem Künstlernachlass macht Spaß. Aber sie kostet Zeit, sie verbraucht Kraft. Auf der Staffelei von Heide-Marlis Lautenschläger stehen angefangene Tafelbilder. Wann hat sie Zeit zu malen? »Jetzt nicht«, sagt sie. Es ist nicht das erste Mal, dass die Malerin ihre künstlerische Arbeit unterbricht. 1990, im Wendejahr, kandidiert sie für den Landtag in Mecklenburg-Vorpommern als Abgeordnete für die Fraktion der PDS. Sie hätte auch Nein sagen können, Heide Marlis Lautenschläger, Jahrgang 1941, Malerin, Zeichnerin, Holzschneiderin, freischaffende Künstlerin, Mutter von drei Kindern, Mitglied im Verband Bildender Künstler in der DDR. Sie war auf einem guten Weg, als man sie fragte, ob sie kandidieren wolle. »Ich konnte nicht Nein sagen. Ich wollte es nicht den Anderen überlassen, was aus uns Künstlern im Osten wird. Alles, was ich erreicht hatte, verdanke ich meinen Lehrern und einer starken Kulturförderung. Wir hatten in Neubrandenburg das Zentrum für Bildende Kunst, ein zuverlässiger Ansprechpartner für alle Künstler im Bezirk. Wir hatten eine Ladengalerie, Bezirkskunstausstellungen; das Zentrum war unser Treffpunkt. Ich wollte nicht, dass das kaputt geht.«

Nach zwei Legislaturperioden ist sie schließlich wieder hauptamtlich Künstlerin. Aber keine Kunst ohne Politik. Diesmal im Ehrenamt. Sie steckt intensiv in der Vorlass-Nachlass-Arbeit und hat wenig Zeit für die eigene Staffelei, aber sie weiß, es muss bald wieder losgehen. »Ohne Malen laufe ich nicht rund.«

Für die Archivarbeit wünscht sie sich jüngere Leute, die mit jüngerem Blick die gemalte Spur unseres Lebens verantwortungsvoll bewahren.

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