Es fehlt das umfassende Konzept

Entscheidend für Menschen mit Behinderungen sind barrierefreie Reiseketten

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.

»Berlin steht bei der barrierefreien Mobilität nicht schlecht da«, sagt Valentin Aichele, »Aber der erforderliche Quantensprung steht dem Land noch bevor.« Er ist Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte und hat im Auftrag der Integrationsverwaltung einen Bericht zur Mobilität von Menschen mit Behinderungen erstellt.

Bei der S-Bahn sieht es am Besten aus: 94 Prozent der Bahnhöfe sind barrierefrei, bis 2023 sollen die 100 Prozent erreicht sein. Und obwohl die U-Bahnhöfe derzeit nur zu 68 Prozent ohne fremde Hilfe für Rollstuhlfahrer zu erreichen sind, soll die Barrierefreiheit dort bereits 2020 erreicht werden, verspricht Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne).

Weniger gut sieht es bei der Straßenbahn aus. Die Züge sind zwar fast vollständig niederflurig, dafür sind nur 56 Prozent der Haltestellen barrierefrei. Zwar können Rollstuhlfahrer mittels Rampen zusteigen, allerdings muss der Fahrer diese ausklappen. »Selbstbestimmte Mobilität bedeutet, dass die Menschen sich ohne fremde Hilfe bewegen können«, sagt Integrationssenatorin Elke Breitenbach (LINKE). Ärgerlich sind vor allem die Haltestellen, bei denen direkt von der Fahrbahn eingestiegen werden muss. »Es ist unverständlich, warum so etwas sogar auf wenige Jahre alten Neubaustrecken wie in der Bernauer Straße angelegt wurden«, sagt Jens Wieseke vom Fahrgastverband IGEB. Dabei gebe es mit sogenannten überfahrbaren Kaps, einer bahnsteigähnlichen Erhöhung der Fahrbahn, eine bewährte Lösung für das Problem. »Das ist gleichzeitig auch ein Beitrag zur Verkehrssicherheit der Fahrgäste«, so Wieseke. Neun Millionen Euro sind im aktuellen Haushalt für den Umbau eingestellt, erklärt Günther.

Zwölf Millionen Euro stehen für den Bus zur Verfügung. Die sind auch dringend nötig, nur ein Zehntel der knapp 6500 Haltestellenbereiche sind so ausgebaut, dass Rollifahrer ohne fremde Hilfe in die komplett niederflurige Busflotte kommen. »Dort soll das Umsetzungstempo beschleunigt werden«, verspricht Günther. Denn: »Zehn Prozent der Bevölkerung sind zwingend angewiesen auf Barrierefreiheit, für 40 Prozent ist sie eine notwendige Unterstützung, für 100 Prozent ist sie eine willkommene Komfortsteigerung«, so die Senatorin. Doch bei den zuständigen Bezirken fehlt seit Langem Personal.

»Problematisch sind auch die Störungen im System«, sagt Valentin Aichele. Zwar hätten die Fahrstühle bei U- und S-Bahn eine hohe Verfügbarkeitsquote, allerdings fielen einige für längere Zeiträume aus. Die Verkehrssenatorin verspricht für die zweite Jahreshälfte immerhin eine Echtzeitinformation über Ausfälle.

Auch behindertengerechte Toiletten sind ein Thema. Das Land wird die Zahl öffentlicher Toiletten von derzeit 257 auf 366 ausbauen, weitere 100 könnten außerdem dazukommen. »Wir sind auch mit der BVG in Verhandlungen, dass auch U-Bahnhöfe mit Toiletten ausgestattet werden«, berichtet Günther. In vielen anderen Städten sei das Standard.

»Bislang fehlt ein umfassendes Konzept zur Mobilität von Menschen mit Behinderungen«, kritisiert Aichele. Er begrüßt die Senatspläne, dieses zu erarbeiten. Nur so könne eine »barrierefreie Reisekette von der Wohnungstür bis zum Zielort« ermöglicht werden.

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