Sehnsucht nach dem Nichtgesehenen

Anthony Doerr taucht wirklich in «Die Tiefe»

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Was, Opa, glaubst du an nichts, was du nicht sehen kannst?« Die Frage der 15-jährigen Allison sei an den Leser weitergegeben. Ein abfälliges »Nein«? Dann ist dieses Buch nichts für Sie. Was nicht abfällig gemeint sein soll: Die Welt der Tatsachen ist groß genug. Sie lesend zu ergründen, dafür gibt es vieles von Wert. Menschen - auch Autoren - sind unterschiedlich »gestrickt«. Doch Anthony Doerr, 1973 in Cleveland, Ohio, geboren, ist nun mal einer, der hinter die Tatsachen blicken möchte. Das ist nicht nur ein »Dreh« hin zu gut verkäuflicher Mystery. Etwas Ernsteres liegt darunter. Die Szene mit Harry Potter, Luna Lovegood und den Thestralen kam mir in den Sinn. Diese seltsamen geflügelten Pferde zeigen sich nur dem, der schon einmal einen Menschen sterben sah.

Der Tod ist im Hintergrund aller dieser Geschichten. Auch in »Wachset und mehret euch«, wo ein Paar um Nachkommen kämpft und ohne die moderne Medizin keine Chance hätte. Von 14 Embryos in Reagenzgläsern sind nach zwei Tagen immerhin drei kräftig genug, um eingesetzt zu werden. Und die anderen? Eine Zerreißprobe für Imogen und Herb. Wie tapfer müssen die beiden sein und Geld ausgeben, das sie eigentlich nicht haben ...

In »Die entmilitarisierte Zone« zwischen Nord- und Südkorea ist in einer anderen Geschichte ein junger US-Soldat gegangen, weil er einen Kranich retten wollte, der dennoch später stirbt. Wie der feinfühlige junge Mann (glücklicherweise bleibt ihm das Kriegsgericht erspart) an seinen Vater schreibt, spürt man, welche Widerstandskraft es braucht, um innerhalb der Militärmaschinerie Menschlichkeit zu bewahren.

Aus der Tiefe kommt ein Widerstehen - mag es auch unvernünftig sein, sich gegen den Drei-Schluchten-Damm zu wehren, immerhin hatte der Jangtsekiang 1954 bei einem Hochwasser 30 000 Menschen in den Tod gerissen. Aber die alte Chinesin, aus deren Sicht in »Dorf 113« erzählt wird, kann sich nicht abfinden mit dem Verlust ihrer Lebenswelt. Mit dem Lehrer Ko steckt sie Protestbriefe in Flaschen, zusammen mit Glühwürmchen, damit man sie sieht, wenn sie den Fluss hinuntertreiben. Man dachte schon, sie würde den Tod in den Fluten finden …

Welche Wortbilder Anthony Doerr uns malt! Ja, auch wie er kämpft um das, was andere verlachen! Wie er diese Hellsichtigkeit verteidigt, diesen Sinn für etwas, das fantastisch zu nennen ihm widerstreben würde! »Wir sehen Dinge. Manchmal sind sie da. Manchmal sind sie nicht da. Wir sehen sie trotzdem. Verstehst du?«, sagt Allison, deren Eltern beide an Krebs gestorben sind. Sie ist aus Kansas zu ihrem Großvater nach Litauen gekommen. »Memel« heißt die Erzählung, in der ein Stör eine wichtige Rolle spielt. Ein altes Foto zeigt Allisons Mutter mit einem riesigen Fisch. »Erketas«, sagt Mrs. Sabo, die sich sonst an kaum etwas erinnern kann. Aber der Großvater meint, dass es in der Memel längst keine Störe mehr gebe. Da wird der Gegenbeweis für Allison wichtig wie nur irgendwas. »Jesus, sagte Dad immer, ist ein goldenes Boot auf einem langen, dunklen Fluss.« - Es mag Rezensenten geben, die sich an solchen Sätzen stören. Ihre Sache.

Tod, doch das Leben geht weiter: Von der Titelerzählung an zieht sich dieser Gedanke durch den ganzen Band. Tom hat ein Loch in der Herzscheidewand. Die Mutter will ihn vor jeder Anstrengung schützen. Aber die Mitschülerin Ruby ist verrückt nach Tauchabenteuern. »Im Ozean, sagt Ruby, ist die Hälfte der Felsen lebendig, und die Hälfte der Pflanzen sind Tiere.« Sehnsucht nach dem Nichtgesehenen, Nichterlebten. »Ich dachte immer«, meint Tom am Schluss, »ich müsste vorsichtig damit umgehen, wie sehr oder wie viel ich lebe. Als wäre das Leben eine Tasche voller Münzen und als hättest du nur soundso viele bekommen und wolltest sie nicht auf einmal ausgeben … Aber jetzt weiß ich, dass das Leben das Eine auf dieser Welt ist, das niemals vergeht.«

Der Erzählband hieß im Original »Memory Wall«, Wand der Erinnerung, und ist sogar vier Jahre vor dem Roman »Alles Licht, das wir nicht sehen« erschienen, für den Anthony Doerr den Pulitzerpreis erhielt. Die umfangreiche Titelerzählung hat der Verlag C. H. Beck 2016 einzeln publiziert. Doch was jetzt erschien, ist nicht bloß der »Rest«. Jeder Text für sich ist mitreißende Lektüre, und jedes Mal wird man in eine andere Wirklichkeit versetzt.

Die letzte Erzählung, »Nachwelt«, lässt die Leserschaft an seinen Erfolgsroman denken, der während des Zweiten Weltkriegs spielt. Wieder ein Mädchen mit einem Gebrechen, wobei Esther nicht blind ist wie Marie-Laure im Roman. Von Kindheit an leidet sie an Epilepsie, und seltsamerweise war dies gerade der Grund, dass der Arzt Dr. Rosenberg sie als Einzige aus dem jüdischen Waisenhaus rettete. Die anderen elf Mädchen, darunter die Freundin Miriam, wurden »nach Polen« geschickt. Immer wieder erschienen sie Esther im Traum. Nun ist sie 81 und schaut in ihren Garten in Geneva, Ohio. Ihr 20-jähriger Enkel Robert kümmert sich in Abwesenheit seiner Eltern rührend um sie. Esthers Sohn und seine Frau sind nämlich nach China geflogen, um zwei kleine Mädchen zu adoptieren. Die werden wir am Schluss über den ersten Schnee jubeln sehen. Und Robert wird durch Esthers Garten gehen: »Jeder Baum, jeder Zaunpfahl ist eine Kerze der Erinnerung …«

Kurz vorher hatte Esther in der Nacht eine Stimme gehört. Ihr Haus hatte sich verwandelt, plötzlich war sie in Hamburg. Sie tastete sich zur Tür, ging dunkle Treppen hinunter und sah unterm Nachthimmel elf Mädchen stehen. »Wir haben gewartet, sagt Miriam und lächelt ihr liebes Lächeln … Dann gehen sie zusammen die Straße hinunter.«

Anthony Doerr: Die Tiefe. Stories. Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence. C. H. Beck, 267 S., geb., 22 €.

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