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Der Nagel im Reifen

Deutsches Schauspielhaus Hamburg: »Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gehört zum Schicksal unserer Sehnsüchte, nicht altern zu können. Sehnsucht fährt in uns hinein, kaspert in unserer Existenz herum, richtet etwas an und nimmt keine Rücksicht darauf, dass wir täglich schneller in der Anpassung schnurren - und also täglich etwas mehr loslassen vom erträumten Leben. Aus diesem quälenden Widerspruch erwächst die Kraft einer Komik, über die es nichts zu lachen gibt. Was alles nur noch komischer macht.

Wissenschaftliche Veranstaltungen tun da gewiss gut. An eingängigen Themen fehlt es nicht. Wie wäre es mit Diskussionen »über die Bedeutungsverschiebung von Lust, Liebe und Geschlechterdifferenz in Zeiten elektromagnetisch gesteuerter Kommunikationsprozesse«? Der Saal füllt sich. Eine Garderobiere hängt die Mäntel Hereinkommender an nicht vorhandene Haken. Im Herabfallen der Kleidung offenbart sich des Lebens partisanische Grundidee: Schwerkraft ist eine Lachnummer.

Wir sind also immer auch das Gegenteil dessen, was uns so belästigt, indem es uns niederhält: diese fortwährenden Ausmessungen von oben und unten, links und rechts, Vormarsch und Rückzug, Fortschritt und Reaktion. Mal hören, was die Pataphysik des Alfred Jarry dazu sagt, die Lehre von den imaginären Lösungen für imaginäre Probleme - unbedingt zu befragen wäre auch die »nachkolumbische Matäologie«.

Ein Kongress also. Aber die Gäste verschwinden vergeblich im Saal nebenan. Absage. Denn eine Stimme aus dem Off meldet eine überraschende »Sonnenwindattacke«. Eine elektromagnetische Katastrophe. Sie brachte alle Männer »außer Reichweite« - wozu dann noch Liebeslektionen? Sieben Damen übernehmen. Das Licht freilich wird nur noch für hundert Minuten reichen. Also schnell zur Sache: zu den Etüden der trotzigen Langsamkeit, wie sie nur Christoph Marthaler auf eine Bühne bringen kann. In seinem Werk - soeben gekürt mit dem Internationalen Ibsen-Preis, dem Nobelpreis der Dramatik - findet man gleichsam die Geduld wieder, die Gott angesichts seines Werkes Mensch sehr früh verloren haben muss.

Besagter Alfred Jarry (1872 - 1907), der narreteibegnadete Erfinder von König Ubu, ist der Inspirator dieses Abends am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. »Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch« ist Marthalers Collage-Versuch, dieser grandiosen Wissenschaft der Pataphysik gerecht zu werden: Keine Lüge lügt ohne Beihilfe von Wahrheit, kein Beweis ist Beweis genug, um wirklich etwas zu beweisen. Und so wird ein Bein vors andere gesetzt, um Schritte zu vermeiden; hier darf nichts, aber auch gar nichts geschehen, was sich noch als heimliche Hoffnung auf einen Nutzen, auf ein Ziel deuten ließe. Der Neandertaler begann einst den langen Weg in die Menschwerdung - Christoph Marthaler beendet diesen Weg. »Der pataphysische Geist ist der Nagel im Reifen«, wird trefflich doziert.

Zielankunft im Still-Stand. Gestalten wie Fische in einem Aquarium. Die man sich ja als glückliche Naturen vorstellen darf, weil sie über ihr Los nicht nachdenken müssen und den Ozean nicht kennen. Vollendete Tiere eben - im Gegensatz zum Menschen, jenem ungelungenen Wesen mit dem zu großen, unausgelasteten Bewusstseinsraum im Kopf. Ein Wesen, dazu verdammt, sich fortwährend in eine vollkommene Existenz zu denken. Und daran zu verzweifeln. Marthalers Menschen sind Fische, die dieses Los wundersam und wunderbar besingen können.

Anna Viebrocks Bühne verbindet Treppe, Theke, Teeküche und Tapete sowie Bestuhlung und Blumentopf einmal mehr zu einem Raum grenzenloser Enge. Alles zwar hoch, kalt, aber miefig und bedrängend. Wie eine Herzkammer. Darin die sieben Damen wie Glutnester in einem Löscheimer. Altea Garrido, Rosemary Hardy, Sachiko Hara, Anja Laïs, Sasha Rau, Bettina Stucky, Gala Othero Winter. Am Cello Isabel Gehweiler. Britischer Humor, japanische Grazie, deutsches Sittenmaß, südländische Sinnlichkeit. Auftritt, Abtritt. Forcierung und Versonnenheit. Man versucht den Schneidersitz auf Barhockern oder sinkt über ihnen zusammen. Sinkt und singt. The Kinks und Schumann. Tiriliert mit geschlossenen Augen, nervös zappelnden Fingern, oder man öffnet schweigend den Mund. Als wolle Munchs »Schrei« eine Arie der Lust werden. Als sei die Welt einzig jenes Ausgehobene auf Baustellen, das die Gestirne angähnt. Texte von Gertrude Stein, Gisela Elsner, Nora Gomringer.

Ach ja, die Männer. Geblieben sind von ihnen Schuhpaare, im Raum verteilt - man kann ihnen kleine Rollen mit seltsamen Texten entnehmen, so, wie man sie in chinesischen Glückskeksen findet. Zwei Leibhaftige des weggewehten Geschlechts gibt es doch noch: am Klavier, das sich hebt und senkt, haucht Clemens Sienknecht mit Glanzglatze und im Seidenmorgenmantel Abba-Musik, spielt Beethoven und Satie. Auch kündigt dieser Buster Keaton des Marthaler-Kosmos mit aggressivem, vokalsattem Unterton an, jetzt gleich etwas »Erstaunliches mit der Sprache« zu machen, und wie immer bei einem eifrigen Menschen steigert sich die Ankündigung zur aufgeladenen Aktion - aber nichts dergleichen folgt. Die Lehre, die Leere aller politischen Programmatik: Wir müssen sofort, wir werden unverzüglich ... Gar nichts werden wir.

Marc Bodnar ist der zweite Rest Mann: mal in tänzerische Zuckungen fallend, mal als maschinöser Übermann mit Fahrrad - ganz Jarry! - gegen die Zeit strampelnd, mal von sehr weit oben durch geborstene Fensterscheiben blickend, meist aber damit beschäftigt, wie abgeschaltet hinauszugehen und wieder hereinzukommen - um wieder hinauszugehen. Leben erscheint als Abfolge von Dingen, die wir außerhalb der Kunst nur deshalb überstehen, weil wir einen entscheidenden Gedanken verdrängen: dass sich immer schwerer vereinbaren lässt, ein Gewissen zu haben und trotzdem heiter auf die Straße zu gehen.

Mag der Abend, der mit einem berstenden Cello endet, betont gedämpft im Witz und aufreizend hermetisch sein - er lässt den Atem ruhiger werden in der derzeit gesellschaftsinfizierenden Hysterie rundum. Diese Unglaubwürdigkeit des Wirklichen! Man wird doch mit jeder Behauptung, dies und das sei richtig und angebracht, nur immer kleiner! Dagegen tanzt Marthalers Theater seinen Apocalypso - in einem Vakuum der verqueren Bewegungszwänge und unsteuerbaren Körperverdrehtheiten. Dieses Theater preist jene Wesen, die nicht wissen wollen, ob sie vor oder nach einer Apokalypse leben. Denn pataphysisch betrachtet, gibt es »weder das Glück noch das Unglück. Worauf würde sich das auch reimen, wenn doch alles das Gleiche ist?«

Nächste Vorstellungen: 2., 18., 26. April

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