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Vor dem Häuten der Zwiebel

»Katz und Maus« von Günter Grass - Ein Gastspiel aus der Theaterprovinz Konstanz in der Metropole Berlin

  • Hanno Harnisch
  • Lesedauer: 5 Min.
Kommt der Prophet nicht zum Berg, dann geht eben der Berg zum Propheten. Wandert der Berliner nicht an den Alpenrand, um ins Theater zu gehen, dann fährt eben das Theater vom Bodensee nach Berlin. So geschehen am vergangenen Wochenende. Das Maxim Gorki Theater unter Armin Petras stellte sein Haus am Kastanienwäldchen zur Verfügung für das Theater Konstanz - sein erstes Gastspiel in der Hauptstadt überhaupt. Da muss es schon was Besonderes sein. War es. »Katz und Maus« nach Günter Grass. Als Mittelstück seiner Danziger Trilogie steht diese sehr umfangreiche Novelle zwischen »Blechtrommel« und »Hundejahre«. Erzählt die Geschichte des jungen Ritterkreuzträgers Joachim Mahlke, der kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der Fahne geht, der »nicht mehr auftauchen« will. Die wird - nicht ganz erinnerungsgenau - von einem Herrn Pilenz erzählt, von den Anfängen in zartester Kindheit über seine Pubertät am Gymnasium bis hin zum Tod im Wasser. Als die Geschichte 1961 erschien, wollte sie ein Minister aus Hessen gar auf den Index setzen lassen, wegen einer »Onanierolympiade« der Gymnasiasten um diesen Joachim Mahlke. Versuch gescheitert. Den Film, der 1966 entstand, in dem Lars und Peter, Söhne von Willy Brandt, den Mahlke spielten (und Wolfgang Neuss den Pilenz), durften dann auch nur Menschen älter als 18 sehen. Ähnliche Entrüstung gab es auch am Bodensee zur Uraufführung im Herbst vergangenen Jahres. Die hat sich mittlerweile gelegt, das Theater ist voll. Und es lohnt auch, sich diese Kurzfassung fürs Theater (von Jutta M. Staerk und dem Schweizer Mario Portmann, der auch Regie führte) anzuschauen. Dieser Mahlke (Michael Kientzle) ist anders als all die andern. Sein Adamsapfel (die Maus, die einzige, die in Novelle und Stück auszumachen ist) ist genauso gewaltig wie sein Glied. Umso ungelenker seine Bewegungen, umso stotteriger seine Sprache. Die Katze, die Pilenz einst an seinen Hals ansetzte, würgt ihn zeit seines kurzen Lebens. Der, der eigentlich Clown werden wollte, klaut plötzlich ein Ritterkreuz in der Schule (und wird deswegen geschasst). Um als Ritterkreuzträger in einer SS-Uniform zurückzukehren. Mahlke liebt eigentlich nur die Jungfrau Maria. Viel später als seine Pennälerkumpel (Georg Melich und David Benito Garcia) darf er auch mal »ran« bei Tulla Pokriefke (so heißt sie nun mal bei Grass, derb und verzaubernd zugleich gespielt von Jana Alexia Rödiger). Da wird aus der Buchvorlage, die sich exakt an den Text hält, richtiges Theaterspiel. Das ist kein inszeniertes Hörbuch, sondern ein Fest für alle. Pilenz (Hans Helmut Straub, der für diese Rolle die Beschaulichkeit seines Pensionärsdaseins noch einmal sehr gerne ausgesetzt hat), steht den jungen Leuten in nichts nach. Mal erzählt er (Unmengen von Text), dann spielt er intensiv alle Jugendspiele mit, vom Tauchen in ein Bootswrack bis hin zum schon angesprochenen kollektiven Onanieren. Einzig Mahlke ist und spielt immer Mahlke. Alle anderen schlüpfen in eine der vielen Personen, die Grass in der Novelle aufmarschieren lässt. Verschiedene Offiziere, Geistliche, Verwandte. Immer wenn Pilenz (Straub) sich ein wenig steif eine schwarze Lederhand vor den Leib hält, ist er der Studienrat Klose, der Gegenspieler von Mahlke. Der, der ihn von der Schule schmeißt, und der, der auch seine Rede vor der Schülerschaft verhindert, als er - nunmehr mit eigegenem Ritterkreuz dekoriert - an die Stätte seiner Ausprägung zurückkehrt. Das Theater hatte sich zu seiner Version von »Katz und Maus« entschlossen, da gab es die Diskussion um die sich spät häutende Zwiebel mit ihrer einen Schale, der vergessenen Monate von Grass in der Waffen-SS, noch nicht. Es war eine gute Entscheidung. Wanderer, kommst du nach Konstanz, geh in dieses Stück! Der Sonntagabend in Berlin am Kastanienwäldchen hatte nach dem gelungenen Gastspiel aus der Konstanzer Theaterprovinz noch ein Nachspiel. Wie so oft im Maxim Gorki Theater wurde nach der Vorstellung im Foyer diskutiert. Diesmal aber kein einziges Wort zum gerade gesehenen Stück. Dafür, unter Gesprächsführung eines genau vorbereiteten Hartmut Krug, Theaterkritiker für diverse Kulturwellen und Jurymitglied des Beliner Theatertreffens, ein Nachklapp zum Thema: »Theater zwischen Provinz und Metropole«. Da saßen neben dem Moderator vier Intendanten aus der »Provinz« und eine Kulturpolitikerin aus der Metropole (Alice Ströver von Bündnis 90/Die Grünen) auf dem Podium. Holk Freytag, der vom Westen in den Osten kam, ist jetzt Intendant des Staatsschauspiels Dresden. Ist die Elbmetropole noch Provinz? Ja und nein. Gutes Teater ist da, wo Leidenschaft wohnt. Sewan Latchinian kam von der Metropole Berlin (Ost) in tiefste westliche Provinz (Neuss), um seit drei Jahren in Senftenberg bestes Theater - als Agora für alle - in der gebeutelten Lausitzer Region (mit wenig Geld und vielen Ideen) zu machen. Die junge Dramaturgin Simone Sterr verschlug es von Ahlen jetzt nach Tübingen. Ihr Klassikangebot war »Wassa Shelesnowa« von Gorki. Sie will gegen den Kamm scheren. Sie kann und sollte es schaffen, so klug und leidenschaftlich, wie sie ist. Und dann noch Christoph Nix, der mit Armin Petras viel zusammengearbeitet hat. Seine Erfahrungen aus Nordhausen (und Kassel) helfen ihm jetzt in Konstanz. Er will auch Boulevard, will das »Sylvesterstück«. In der Provinz haben Stadttheater »noch« eine Monopolstellung. In der Provinz »wird leidenschaftlicher gestritten«. Die Berliner können allein zwischen sieben großen Sprechbühnen und dutzenden kleineren Theatern wählen, so die Grüne Ströver. »Geistige Provinz« ist selten an einen geografischen Ort gebunden. Und gutes Theater auch nicht nur an Subventionen. Eine gute Diskussion.
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