Feind aller Ordnung

Der Politaktivist Dieter Kunzelmann ist gestorben

  • Markus Mohr
  • Lesedauer: 4 Min.

Ende November 1983 erklärte der damalige Westberliner Innensenator Heinrich Lummer (CDU) entnervt, dass seitens der Alternativen »immer wichtigere Schaltstellen des Staatsapparats« usurpiert würden, »um Chaos und Terror in der Stadt zu verbreiten«. Lummer zeigte sich davon überzeugt, dass es die »alternative Szene« sei, die »durch gezielte Attacken auf die Würde höchster staatlicher Ämter (…) einen Regierenden Bürgermeister nach dem anderen zum Verlust seiner Glaubwürdigkeit, zur Resignation, zur Amtsflucht« treibe.

Dieser Auffassung trat auch Dieter Kunzelmann im Namen der Alternativen Liste (AL) ausdrücklich bei. Innerhalb von nur zwei Jahren sei es durch eine gezielte Unterwanderungspolitik der AL bei den etablierten Parteien gelungen, nach Dietrich Stobbe (SPD) und Hanns-Jochen Vogel (SPD) nun auch die Rotation von Richard von Weizsäcker (CDU) vom Posten des Regierenden Bürgermeisters zu vergraulen. An Humor hat es Dieter Kunzelmann nie gemangelt.

Geboren im Jahre 1939 als Sohn eines Sparkassendirektors aus Bamberg, merkte er recht bald, dass er nicht in die Fußstapfen seines Vaters steigen konnte. Nach zwei Jahren als Banklehrling in der Coburger Sparkasse packte er seine Sachen und trampte nach Paris. Hier sei ihm klar geworden, so notierte er in seiner 1998 veröffentlichten biografisch gefärbten Lebensbeichte, dass er »eine regelrechte Abscheu gegen alles Geregelte, Sicherheit und Gleichförmigkeit« entwickelte. Kunzelmann begab sich auf Wanderschaft nach Paris und Schwabing. Als Gradmesser für die soziale Verfassung der Städte galt für ihn »nicht zuletzt die Möglichkeit, außerhalb gewohnter Existenzbedingungen überleben zu können, ohne Wohnung, ohne Geld, ohne Arbeitszwang«.

Als Aktivist der Gruppe SPUR und Mitglied in der Situationistischen Internationale verfasste Kunzelmann in den frühen 60er Jahren Manifeste gegen die Ordnung der Welt. Zusammen mit Rudi Dutschke theoretisierte er erste Konzepte zur Bildung revolutionärer Kommunen als »Stützpunkte für ein experimentelles Leben«. Kunzelmann war denn auch Mitbegründer der Kommune 1 zwischen zwei Bordellen am Stuttgarter Platz in Westberlin, die ein Ort der freien Liebe sein sollte. Vor allem die Kommune 1 war es, die im Sommer 1967 den Protest gegen den Shah-Besuch forcierte. Kunzelmann beschrieb diesen rückwirkend als »Tanz auf dem Boulevard«.

Der antiautoritäre Traum dieser Monate endete abrupt nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke und dem darauf gescheiterten Sturm auf das Springerhochhaus. Kunzelmann machte sich danach auf die Flucht ins Ungewisse, reiste nach Italien und Jordanien, ließ sich dort von den palästinensischen Revolutionären als Guerillakämpfer ausbilden. Zurück in Berlin engagierte er sich zunächst in der Gruppe der Umherschweifenden Haschrebellen und gründete dann die Tupamaros Westberlin. Nach seiner Inhaftierung im Sommer 1970 wechselte er 1973 via der Roten Hilfe in die Studentenpartei KPD AO, für die er dann als aus dem Gefängnis heraus bei der Abgeordnetenhauswahl im März 1975 in Reinickendorf - wenn auch ohne Erfolg - kandidierte.

Kunzelmann baute zusammen mit Renate Künast und anderen in der AL den Fachbereich Recht und Demokratie auf und zog für diese dann 1983 in das Abgeordnetenhaus ein, um hier mit großer Begeisterung dem Volke zu dienen, wie er selbst schrieb. Als die AL sieben Jahre später, im November 1990, die Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße mit zu verantworten hatte, trat er als »Karteileiche« wieder aus der Partei aus. Danach engagierte sich Kunzelmann als selbsternannter »Aktionspolitologe« und freischwebendes Mitglied der autonomen Spaßpartei KPD/RZ immer wieder bei einzelnen Protestereignissen.

»Kein anderer Aktivist der bundesdeutschen Protestgeschichte hat so ausdauernd und radikal an subversiven Projekten und Strömungen teilgenommen und hat so konsequent die Grenzen und Abgründe des Radikalismus vermessen«, schrieb der Historiker Aribert Reimann. Der lebenslange Berufsprovokateur Kunzelmann stand in der fortwährenden Negation des Bestehenden für die Perspektive eines anderen Lebens. »Kunzel ist jung geblieben, während um ihn herum eine Generation ehemals rebellischer Menschen vergreist« riefen ihm die autonomen Aktivisten Otto P.P. Feder und Mao »S« Meyer hinterher, als sich Kunzelmann im Frühjahr 1998 überraschend per Zeitungsannonce für tot erklärt hatte.

Nun hat der grüne Rechtsanwalt Christian Ströbele den Tod seines ehemaligen Mandanten am 9. Mai bestätigt.

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