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  • Hausbesetzungen in Berlin

Appell für neue Berliner Linie

Linkspartei-Politikerin fordert Abschaffung des rigiden Umgangs mit Hausbesetzern

  • Maria Jordan
  • Lesedauer: 5 Min.
»Besetzte Häuser müssen binnen 24 Stunden geräumt werden.« Mit diesem Satz rechtfertigte Innensenator Andreas Geisel (SPD) die Räumungen zweier Häuser in Neukölln und Kreuzberg durch die Polizei. Am Pfingstwochenende hatten dort Aktivistinnen und Aktivisten unter dem Stichwort »Besetzen« mehrere Wohnhäuser belagert, um auf die Wohnungsnot aufmerksam zu machen. Die teilweise gewaltsamen Räumungen zogen Strafanzeigen für 56 der Aktivistinnen und Aktivisten nach sich – und eine politische Debatte, die sich inzwischen bis auf die Bundesebene ausgeweitet hat.

Der zentrale Streitpunkt ist die »Berliner Linie der Vernunft«, die LINKE und Grüne kritisieren, während neben dem Innensenator und dessen Parteikollegen, dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller, auch Politiker von CDU und FDP stoisch an ihr festhalten. Sie alle verteidigen die Räumungen vom Pfingstwochenende, ganz nach dem Motto: So steht es geschrieben, so wird es gemacht. Aber wo und was steht da eigentlich geschrieben?

Rückblende: In einer Sitzung des Abgeordnetenhauses am 12. Februar 1981 gab der damalige Bürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) erste Weisungen für das später als »Berliner Linie der Vernunft« bezeichnete Vorgehen bei Hausbesetzungen. Nachdem der gesamte amtierende Senat im Januar 1981 zurückgetreten war, weil eine Senatsumbildung gescheitert war und die Regierung wegen eines Bauskandals und der misslungenen Wohnungspolitik in der Kritik stand, auch im Zusammenhang mit Hausbesetzungen und Krawallen, übernahm Vogel den Posten des Regierenden.

Nur Tage nach seiner Amtsübernahme gab er im Abgeordnetenhaus eine Regierungserklärung zum Thema Wohnungsmangel und Hausbesetzungen ab. Darin legte er vor allem Wert auf Deeskalation. Vogel appellierte an alle Beteiligten, weitere Gewalt zu vermeiden.

Die politische Vorgabe, die wenig später vom Innensenat an die Polizeidirektion übergeben wurde, enthielt die Anweisung, Neubesetzungen zu verhindern, bereits besetzte Häuser jedoch nicht zu räumen, es sei denn, der Eigentümer stelle einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs. Bei einer Räumung sollte der Eigentümer anwesend sein, um zu belegen, dass geplante Sanierungsmaßnahmen gesichert seien. Bestehende Strafanträge gegen Besetzerinnen und Besetzer sollten weiter verfolgt werden.

Dennoch sah Vogel die Hausbetzungen nicht als rein rechtliches, sondern als ein gesellschaftliches Problem an: »Wer glaubt, das Problem ließe sich allein mit dem Ruf nach Polizei, Gericht und Paragrafen oder mit der Forderung nach härteren Strafen lösen, der irrt«, so Vogel vor dem Abgeordnetenhaus. Man müsse sich fragen, warum so viele junge Menschen in Berlin zu Gewalttaten bereit seien. Vogel informierte die Abgeordneten über »Maßnahmen zur Überwindung der Missstände«, die Folge der verfehlten Sanierungs- und Modernisierungspolitik gewesen seien.

Zu diesen Maßnahmen gehörten die Verringerung des Leerstands, die Ermöglichung sinnvoller Zwischennutzung, Beteiligungsangebote der Mieterinnen und Mieter an der Modernisierung und der Gestaltung sowie »die friedliche Erprobung alternativer Lebensmöglichkeiten«. Für diese Zwecke wurden 20 Millionen D-Mark zur Verfügung gestellt. Außerdem nahm der Senat den Dialog mit Beteiligten aus der Besetzerszene in Form einer Vermittlungsgruppe auf.

Hans-Jochen Vogel ebnete hier den Weg für eine Legalisierung von Betzungen im Einzelfall. Häuser sollten dann nicht geräumt werden, wenn der Eigentümer kein Konzept für die Beendigung des Leerstands vorweisen konnte – der damals exorbitant war. In solchen Fällen sollte den Besetzerinnen und Besetzern darüber hinaus ein gewisses Maß Selbstverwaltung zugesprochen werden. Vogel plädierte damit auch für eine Entkriminalisierung von Besetzern und Besetzerinnen, wie sie auch Grüne und LINKE aktuell erneut forderten.

»Die SPD muss sich fragen lassen, wieso sie vor 40 Jahren als Teil eines sozial-liberalen Senats die Legitimität und stadtpolitische Bedeutung von Hausbesetzungen klarer gesehen hat als heute«, kritisiert Katalin Gennburg, Sprecherin für Stadtentwicklung der LINKEN. Sie fordert eine neue »Berliner Linie«, die »die vernünftigen damaligen Ansätze aufgreift und progressiv im Sinne einer Stadt von unten weiterentwickelt«.

SPD-Politiker Volker Härtig, Vorsitzender des Fachausschusses »Soziale Stadt«, hält die Debatte über die Linie für überbewertet. »Wir haben große mietenpolitische Probleme«, sagt Härtig dem »nd«. Was dabei jedoch keine tragende Rolle spiele, sei der Leerstand, der nur marginal sei. Die Forderung, die Besetzung von Leerstand zu legalisieren, hält er für abwegig. Trotzdem dürfe man wegen der Aktionen am Pfingstwochenende nicht den Kopf verlieren: »Der Rechtsfrieden ist durch die Besetzungen eines Seitenflügels der Stadt und Land nicht gefährdet. Dass die CDU versucht, daraus einen Skandal zu machen, ist lächerlich.« Auch fordert Härtig, dass die landeseigene Wohnungsgesellschaft Stadt und Land die Strafanzeigen gegen die Aktivistinnen und Aktivisten zurückzieht.

Anstatt sich in dieser »überflüssigen Debatte« zu verlieren, müsse sich in der Wohnungspolitik etwas bewegen, sagt Härtig, der in den Achtzigern selbst an dem von Vogel einberufenen Vermittlerkreis zwischen Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern und Senat teilnahm, damals für die Alternative Liste (AL). »Wir brauchen eine Entspannung auf dem Wohnungsmarkt«, sagt Härtig, der heute einer der entscheidenden Köpfe für Wohnungsstrategien aus der SPD ist.

Statt mit Leerstand müsse die Politik sich zum Beispiel mit Sanierungsgebieten und Bodenregulierungen befassen. Schon der Ex-Regierende Vogel kritisierte die damalige Bodenregulierung: »Wären die administrativen Prozesse nicht so schrecklich langwierig«, sagte er, »hätten wir ein Bodenrecht, das Grund und Boden nicht wie eine beliebig vermehrbare Ware behandelt, sondern wie ein elementares Grundbedürfnis, wie Wasser, wie Brot.«

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