Schreien und flüstern, poltern und säuseln

»Die Letzten« von Maxim Gorki im Gorki-Theater

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Maxim Gorki im Jahre 1907 das Stück »Die Letzten« auf der Insel Ca᠆pri schrieb, schwebte ihm als Titel eigentlich der Name »Der Vater« vor, weil er beabsichtigte, die Verkommenheit der adligen Gesellschaft mit der Darstellung eines Familienpaschas ins Bild zu zwingen. So schuf er mit dem ehemaligen Polizeioffizier Iwan Kolomizew eine lebenspralle Schurkenfigur. Einen, der soff und hurte, der bestach und sich bestechen ließ, der seine Familie tyrannisierte und seine Untergebenen zur brutalsten Behandlung von Gefangenen anhielt.

In einer späteren Arbeitsphase sah Gorki, dass er mit der Vorführung eines Einzelnen das ganze Ausmaß des moralischen Niedergangs nicht erfassen konnte, und er umstellte Kolomizew mit allerlei ebenfalls schuldhaft verstrickten Figuren seines persönlichen Umfelds. Da ist die mannstolle Tochter Nadeshda, die mit Intrigen das Haus des Onkels Jakows ergaunern will, oder deren Ehemann, der Gefängnisarzt Leschtsch, der den Onkel mit absichtlich falschen Behandlungsmethoden an den Rand des Todes befördert.

Auch die Kinder Pjotr und Vera reihen sich ein in die Front der Schuldigen. Vera beispielsweise wollte sich eigentlich einer arrangierten, mit Bestechungsgeldern erwirkten Ehe widersetzen, da sie aber von dem zur Befreiung bestellten Polizisten vergewaltigt wird, fällt sie in tiefe Resignation und fügt sich unterwürfig dem Vater. Pjotr und Vera waren nicht nur die von der Mutter gerügten »Allerletzten« am Mittagstisch, sondern auch die Letzten (daher der Titel), die den Pfad der Tugend verließen. Einzige Gegenspielerin ist in Gorkis Stück die verkrüppelte Ljubow, das Produkt eines außerehelichen Verhältnisses ihrer Mutter mit dem Onkel. Von Kolomizew ist sie als Kleinkind in einem Moment der Rache auf den Steinboden geworfen worden.

In der Spielfassung des Maxim-Gorki-Theaters fällt zunächst eine dramaturgische Operation auf, die nur bedingt einen Gewinn an Handlungsmaterial bringt. Die Texte der Mutter sind auf mehrere Schauspielerinnen aufgeteilt, wodurch eine Spaltung der Figur in die demütige Dulderin einerseits und die aufbegehrende Rebellin andererseits möglich wird. In der Inszenierung von András Dömötör wird das Prinzip der Textaufteilung auf die Spitze getrieben. Einzelne Satzfetzen schwirren umher, ohne dass sie eine dramatische Figur kennzeichnen könnten. Dadurch verschwindet auch die prägende Figur der Mutter und damit der von ihr ausgesprochene Gorki-Gedanke von den Letzten der Anständigen. Dafür sind Texte hineingeschrieben worden, die den Schmähreden heutiger Fremdenhasser und Populisten entstammen könnten. Iwan fordert den Bau einer Mauer, die Fremde aufhalten kann, sowie die unverzügliche Vertreibung der Flüchtlinge.

Stilistisch sucht Regisseur András Dömötör die Mittel von Farce und wirklichkeitsverzerrender Groteske. Die erste Szene deutet die Richtung an. Die Kinder erstürmen in grellbunter Schlafbekleidung und mit seltsamen Fantasiefrisuren die Betten, die in einem Glashaus verankert sind. Außerhalb des Glaskäfigs häkelt die Amme - mit aufwendiger Hochfrisur und knieweitem Strickkleid ausgestattet - und stellt die einzelnen Kinder mit mildem Lächeln vor. Dann ein jäher Bruch: Aus der Amme wird der Familientyrann Iwan, aus der Hochfrisur werden Glatze und Bart. Dieser Familienpascha wird fortan schreien und flüstern, poltern und säuseln, wird seine Kinder verhöhnen und züchtigen, sich abwechselnd als Gutmensch, als Opfer oder Einpeitscher in Szene setzen und zum Schluss den riesigen Teddybären, in dem sich sein Bruder Jakow versteckt, an die Wand schleudern.

Auch in Iwans Umfeld geschieht Irrwitziges: Tochter Nadeshda handelt dem Onkel unter Kaskaden von Zungenschlagküssen den Besitz des Hauses ab und befriedigt ihre Liebessehnsucht an einem kleinen Stoffkaninchen. Die Tochter Vera schlägt in einem Rausch der Bösartigkeit mit einem Plasterohr auf ihren Bruder Pjotr ein, und alle zusammen singen sie, gekleidet in rosa Mänteln, ein Danklied auf den verhassten Vater. Ebenfalls im Chor sprechen sie die Texte, mit denen ihre Mutter der Bittstellerin Sokolowa Hilfe verspricht - Gorkis realistisch gezeichnete Figuren als kranke Spukgestalten im Horrorkabinett.

Bedauerlich, dass der junge Regisseur von seinen Darstellern subtile Schauspielkunst nicht abgefordert hat. Dass sich das durchaus gelohnt hätte, beweist Dimitrij Schaad als Familienvater Iwan, wenn er mit teuflisch brillanter Argumentationsakrobatik die Bittstellerin Sokolowa von ihrem Gesuch um Freilassung des Sohnes abbringt.

Nächste Vorstellung: 28. Juni

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal