Zur Oma nach Auschwitz

Am ehemaligen jüdischen Landwerk in Neuendorf wurde ein Denkmal für Opfer des Faschismus eingeweiht

  • Sybille Gurack
  • Lesedauer: 4 Min.

90 Kinder der beiden Clara-Grunwald-Schulen in Berlin-Kreuzberg und Hangelsberg haben den Tag wochenlang vorbereitet. Sie schrieben auf 159 Stoffbahnen die Namen jüdischer Mädchen und Jungen, die 1943 von Neuendorf aus über Berlin und Potsdam nach Ausschwitz deportiert wurden. Im Beisein vieler interessierter Bürger verlasen die Schüler die 159 Namen der im Konzentrationslager ermordeten Mädchen und Jungen und gestalteten mit den Stoffbahnen eine Art Erinnerungsallee zum Gutshof Neuendorf (Oder-Spree).

Dort wurde am Mittwoch ein Denkmal eingeweiht. Zu diesem Termin kam mit seiner Familie auch der 88-jährige Itzhak Baumwol. Er war extra aus dem israelischen Tel Aviv angereist.

Auf dem Gut Neuendorf befand sich von 1932 bis 1943 eine Hachschara-Ausbildungsstätte. Hier wurden junge Juden darauf vorbereitet, nach Palästina auszuwandern. Englisch und Hebräisch wurde gelehrt, jüdische Geschichte und auch Ackerbau und Viehzucht unter den klimatischen Bedingungen im Nahen Osten. Izhak Baumwols Schwester Jutta kam als Achtklässlerin nach Neuendorf. Die Familie glaubte sie in dieser Einrichtung gut aufgehoben. Und so war es ja zu Anfang auch. Den Angehörigen gelang die illegalen Ausreise aus Deutschland. Sie erfuhren damals nichts davon, dass die Faschisten 1943 aus den Hachschara-Stätten Zwangslager machten. Auch Clara Grunwald, die als führende Kraft der deutschen Anhänger der Pädagogin Maria Montessori gilt, kam ins Neuendorfer Zwangslager. Die Reformpädagogin Grundwald musste der Nazis wegen ihre Lehrertätigkeit aufgeben und kam mit den anderen Lagerinsassen 1943 ins Konzentrationslager.

Am Mittwoch nun wurde kurz vor Neuendorf - etwa auf der halben Strecke zwischen Dorf und Gut - ein Denkmal eingeweiht. Ein Denkmal, das starken Frauen wie Jutta Baumwol, Clara Grunwald und allen, die von Neuendorf aus in den Tod nach Ausschwitz geschickt wurden, wieder ein Gesicht gibt.

Landrat Rolf Lindemann (SPD) nahm die Versammelten in seiner Rede mit auf eine Zeitreise ins Jahr 1943. Er forderte dazu auf, sich das damalige Leben der Jutta Baumwol vorzustellen. Sie war nur wenig älter als die anwesenden Kinder und Jugendlichen: eine lebenslustige, junge Frau. Plötzlich grüßten die vorher immer so freundlichen Nachbarn nicht mehr. Jutta wurde ausgegrenzt, durfte nicht mehr zur Schule und nicht in öffentliche Einrichtungen wie Badeanstalten. Konzertbesuche waren tabu, selbst das Hinsetzen auf eine Parkbank. In Schaufenstern musste sie lesen: »Deutsche, kauft nicht bei Juden!« Konnte das Mädchen wohl verstehen, warum das passierte, warum sie aufgrund ihrer Religion so gehasst wurde? Es kam noch schlimmer: Ehemals beste Freunde warfen Fensterscheiben ein, verwüsteten jüdische Geschäfte und setzten Synagogen in Brand. Landrat Lindemanns Gedankenexperiment funktionierte. Man hätte ein Blatt fallen hören können an diesem heißen Mittwoch an der Weggabelung vor Neuendorf.

Itzhak Baumwol und seine Familie enthüllten das Denkmal. Zutage kam die Darstellung einer schlanken jungen Frau. Das ehemalige jüdische Landwerk Neuendorf im Rücken, hält sie mit einer Harke in der Hand Ausschau in Richtung Dorf. Dazu hat sie sich auf einen Baumstumpf gestellt. Modell gestanden für die Stahlkonstruktion hat Jule Weilbach - eine etwa gleichaltrige Neuendorferin, deren Familie sich seit Jahrzehnten für den Ort, für das geschichtsträchtige Gut und den Kontakt zu den Clara-Grunwald-Schulen einsetzt.

Arnold Bischinger sprach zur Idee des Denkmals: »Die Hoffnung hat sie nicht aufgegeben. Sie hält Ausschau, wenn auch mit ungewissem Ausgang.« Bischinger ist Vorsitzender des ortsansässigen Vereins »Kulturscheune« und seit Jahresbeginn Leiter des Kultur- und Sportamts in der Kreisverwaltung. Seit Jahren kämpft er dafür, dass die Erinnerung an das jüdische Landwerk nicht verblasst.

Itzhak Baumwol hatte am Dienstag den Gedenkort Gleis 17 in Berlin-Grunewald besucht. Von da aus wurde seine Schwester Jutta mit dem 37. Osttransport nach Ausschwitz gebracht. Itzhak Baumwol trat auch als Zeitzeuge an Berliner Schulen auf. Den Kindern sagt er heute, er mache niemandem hier einen Vorwurf. Keiner der Anwesenden habe damals schon gelebt. Aber er erwarte, dass sie sich mit der Vergangenheit beschäftigen und Verantwortung übernehmen für die Zukunft. An dieser Stelle gab es kräftigen Beifall.

25 Worte pro Monat durfte Jutta einst aus dem Lager an ihre Familie schreiben. In ihrem letzten Brief vor der Deportation ins KZ stand: »Ich bin stark. Seid ihr auch stark. Ich fahre zu Oma. Vergesst nicht.« Die Großmutter war bereits tot, und Jutta wusste das. Sie ahnte, dass sie nun auch bald sterben würde.

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