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Befreiung durch Regeln

Die Autorengruppe Oulipo und ihre Literatur des formalen Selbstzwangs.

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 7 Min.

Haben Sie nicht auch, unter dem Schock eines vollkommen geglückten Verses, das traurige Gefühl, dass man sich seiner leider nur ein einziges Mal bedient hat?«, fragt François Le Lionnais im Nachwort zu Raymond Queneaus Werk »Hunderttausendmilliarden Gedichte«. Eine Rettung für die geglückten Verse sah der Mathematiker Le Lionnais in dieser von Queneau entworfenen »Maschine zur Herstellung von Gedichten« von 1961, deren zwölf Sonette durch die freie Kombinierbarkeit ihrer Verse tatsächlich die im Titel angekündigte Anzahl an Variationen eines Gedichtes zuließen - Lesestoff für 95 Millionen Jahre.

Schon 1960 hatten Queneau und Le Lionnais das theoretische Fundament dieser Literatur entworfen und das »Séminaire de Littérature Expérimentale« gegründet. Ähnlich wie die Vertreter der Konkreten Poesie in Deutschland, die Cut-up-Dichter in den USA oder die Autoren des Nouveau Roman in Frankreich suchten die Oulipoten, wie Oskar Pastior sie später nannte, in literarischen Experimenten nach einer Sprache, die zwar an die klassischen Avantgarden anknüpfte, jedoch auch zeigte, dass nach der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg ein unreflektiertes Weitermachen nicht mehr möglich war.

Kurz nach Gründung benannte sich das »Seminar für experimentelle Literatur« in »Ouvroir de Littérature Potentielle« um, »Werkstatt für potenzielle Literatur«. Denn der Werkstatt ging es weniger um die Produktion von experimenteller Literatur, sondern darum, »Methoden zu schaffen, sich mit unserer wissenschaftlichen Zivilisation in Übereinstimmung zu setzen«, wie Le Lionnais ausführt. Diese Methoden umriss die Gruppe im Laufe der Sechziger in mehreren Manifesten.

Dass mit Le Lionnais und Queneau ausgerechnet ein Mathematiker und ein Literat gemeinsam das Grundkonzept von Oulipo - wie sich die Gruppe abkürzte - entwickelten, ist kein Zufall: Ausgangspunkt war es, mathematische Modelle auf die Literatur zu übertragen, nach Schnittstellen von Mathematik und Poesie zu suchen: Der Autor sollte in den Hintergrund und die Konstruiertheit von Literatur in den Mittelpunkt rücken. Das Klischee des Künstlers als Genie sollte in streng formalen Werken dekonstruiert und die Sprache als reines Material behandelt werden. Diesem, so die Überlegungen der Oulipoten, wohne in der experimentellen Anordnung das Potenzial für künstlerische Artikulationen inne.

So ging Oulipo zunächst auf die Suche nach Werken der Literaturgeschichte, in denen formale Aspekte dem Inhalt übergeordnet waren. Sie sammelten Schüttelreime, Palindrome oder Anagramme. Daneben schuf die derweil stetig wachsende Gruppe Werke auf Basis eines selbst auferlegten Formzwangs - eines »contrainte«, wie es in den Manifesten heißt -, wie Queneaus »Maschine zur Herstellung von Gedichten«, oder die Texte des 1967 in die Oulipo-Gruppe aufgenommenen Georges Perec, der beispielsweise das seinerzeit längste Palindrom der Literaturgeschichte schuf: einen Text aus 1247 Wörtern, der sich von vorne und hinten exakt identisch liest. Zwar war oftmals das Ergebnis der Oulipo-Literatur zufällig - etwa die stets neuen Varianten der »Hunderttausendmilliarden Gedichte« -, anders als bei den Surrealisten war der Zufall für sie jedoch nicht Grundlage der Entstehung von Literatur. Gerade die Abkehr von einer Poetik des Zufalls bestimmt bis heute die Arbeiten von Oulipo.

Jedes literarische Schreiben gehorche bestimmten Regeln, so die Oulipoten, nur sei das den herkömmlichen vermeintlichen Kunstgenies nicht klar oder sie verdeckten diesen Umstand. Nicht so die Oulipo-Autoren: Das ganz bewusste Einhalten von vorher festgelegten Regeln betrachteten sie insofern als Befreiung von unbewussten Zwängen. Es entstanden Panagramme - Texte, in denen alle Buchstaben des Alphabets vorkommen müssen -, Heterogramme, worin kein Buchstabe zweimal verwendet werden darf, Leipogramme, die bewusst auf einen oder mehrere Buchstaben des Alphabets verzichten, und viele andere Varianten oulipistischer Spiele mit dem Sprachmaterial.

Trotz der Bedeutung von Oulipo für die Nachkriegsliteratur und dem Erfolg einzelner ihrer Autoren wie zum Beispiel Italo Calvino, Oskar Pastior oder Raymond Queneau, sind die theoretischen Grundlagen dieser Art des Schreibens im deutschsprachigen Raum bis heute nahezu unbekannt.

Der Züricher Verlag Diaphanes, der seit einigen Jahren das Werk von Georges Perec wieder auf Deutsch zugänglich macht, versucht nun an dieser Schieflage etwas zu ändern. Eine Buchreihe unter dem Titel »Oulipo & Co.«, die vom Oulipo-Kenner Jürgen Ritte herausgegeben wird, startet mit vier Bänden, die verschiedene Facetten der Gruppe abbilden. Während »Der Obstgarten« von Harry Matthews Erinnerungen an Georges Perec beinhaltet, die in einer auch von dem 1982 an Lungenkrebs verstorbenen Autoren angewandten Technik verfasst sind, nach der jedes Erinnerungsfragment mit »Ich erinnere mich« zu beginnen hat, erzählt Félix Fénéon im Büchlein »In drei Zeilen« 123 Dramolette, die in strikter Begrenzung auf nur drei Zeilen Tragödien des Alltags erzählen: »Seit drei Monaten waren die Audouy aus Nanterre verheiratet. Sie haben sich mit Laudanum, Arsen und einem Revolver umgebracht.« Ein weiteres Buch der Reihe von Harry Matthews, »Die Lust an sich«, enthält sechzig Varianten, onanierende Menschen zu beschreiben.

Dass die Oulipo-Bewegung nicht auf mehr oder weniger gelungene Spiele mit der Sprache zu reduzieren ist, zeigt der ebenfalls in der Reihe publizierte kleine Text »Leonardo in Dora« des Oulipo-Gründers Le Lionnais. Darin erzählt das ehemalige Mitglied der Résistance von seiner Zeit als Häftling im Konzentrationslager Mittelbau-Dora.

Eine Überlebensstrategie an diesem furchtbaren Ort war die Auseinandersetzung mit Kunstwerken, einerseits mit existierenden, die er im Geiste zu rekonstruieren versuchte, andererseits mit solchen, die einer »mentalen Malerei« entstammten: »Ich bin in der Tat der Autor einer großen Anzahl von Gemälden, die ich mir, unfähig sie zu malen, leider nur ausdenken konnte.« Im Nachwort schreibt Jürgen Ritte: »Die Kunst, und die Vermutung, dass in ihr mehr Mathematik, mehr Methode steckt, als sie sich vielleicht eingestehen mag, die Kunst und ihre genaue Beherrschung, in der Ausführung wie in der Betrachtung, kann Leben retten.«

Dem Zufall des Überlebens stellte nicht nur Le Lionnais die Strenge der Literatur, den Zwang klarer Regeln für die Erstellung von Texten gegenüber. Insbesondere das Schreiben von Georges Perec ist sehr von etwa Ähnlichem geprägt: Sein Spiel mit der Sprache nimmt den eigentümlichen Charakter einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit seiner Biografie als 1936 geborener polnisch-französischer Jude an.

»Man rettet sich (manchmal), indem man spielt«, schreibt er in »Die dunkle Kammer«, einem Traumtagebuch von 1968 bis 1972. Perecs Vater starb 1940 bei der Verteidigung von Paris, seine Mutter schickte Georges 1941 aufs Land, wo er als Katholik getarnt in einem Kinderheim die Verfolgung überlebte. Sie selbst wurde 1943 nach Auschwitz deportiert. Diese Leere, die die Shoah in seine Biografie gerissen hat, ist das Zentrum von Perecs Schreiben, um das alle seine Werke kreisen - insbesondere jene, die unter dem Einfluss von Oulipo entstanden sind: über Strategien des literarischen Experimentierens wird eben diese Leere Teil seiner Texte.

»Für E« lautet die Widmung von Perecs Autobiografie »W oder die Kindheitserinnerung« über den Verlust der Eltern, wenige Jahre zuvor war mit »Anton Foyls Fortgang« ein Oulipo-Roman Perecs erschienen, in dem dieses E tatsächlich materiell abwesend war - nachträglich wird sogar die vermeintliche literarische Spielerei von der Realität der Vernichtung eingeholt. Und auch das neu aufgelegte Hauptwerk Perecs, »Das Leben. Gebrauchsanweisung« bietet auf Basis eines Formexperiments im Sinne von Oulipo eine komplexe Beschäftigung mit dieser Leere.

Im Mittelpunkt dieses Buches steht der wohlhabende Percival Bartlebooth, der den Plan entwickelt, 20 Jahre lang die Kunst des Aquarellmalens zu entwerfen, danach 20 Jahre durch die Welt zu reisen und 500 Aquarelle anzufertigen. Diese werden nach Paris geschickt, wo sie zu Puzzles verarbeitet werden, die Bartlebooth in den nächsten 20 Jahren wieder zusammensetzt. Schließlich schickt er sie an den Ort ihrer Entstehung zurück, wo die Farben wieder entfernt werden. Die Entstehung von Sinn durch den Prozess des Malens wird zurückgenommen, es bleibt nichts zurück als die Leere der weißen Leinwand - und selbst dieser Plan kann nicht zu Ende geführt werden.

Auch die Geschichte von Oulipo ist bis heute nicht abgeschlossen. In den 1980ern formierte sich Oubapo, um die Oulipo-Prinzipien auf Comics zu übertragen. Und noch immer werden Mathematiker und Literaten auch in Oulipo aufgenommen, um gemeinsam an der Erkundung des Potenzials von Literatur zu arbeiten. Verstorbene wie Perec, Pastior oder Queneau sind nach wie vor dabei, bei den Treffen wird ihr Fehlen als »dauerhaft entschuldigt« protokolliert.

Félix Fénéon: In drei Zeilen. 123 Dramolette. Zürich: Diaphanes 2018.

François Le Lionnais: Leonardo in Dora. Zürich: Diaphanes 2018.

Harry Matthews: Der Obstgarten. Zürich: Diaphanes 2018.

Harry Matthews: Die Lust an sich. Zürich: Diaphanes 2018.

Georges Perec: Das Leben. Gebrauchsanweisung. Zürich: Diaphanes 2017.

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