Freier Blick ins dunkle Land

»Einmal einfach« - neue Gedichte von Michael Krüger

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

In diesen Gedichten fehlt jede Hoffnung auf Erlösung. Erlösung fehlt, seit wir sie brauchen, also: seit es uns gibt. Jeder Wunsch nach Erlösung antwortet auf deren unabänderliche Abwesenheit. Der Vorgang, dies Unumstößliche abzumildern, heißt Gott. Es ist ein »müder Gott«, der »zu lange in der Hoffnung lebte,/ nicht durchschaut zu werden«. Aber manchmal hört der Dichter diesen Gott auch lachen, »da halten selbst die Vögel den Schnabel«.

Michael Krüger erlebt seine Liebe zum Leben so, wie man eine Liebe am innigsten, am sinnigsten erlebt. Man erlebt eine Liebe am sinnigsten und innigsten, wenn ihr alles entgegensteht. Dieser Poet, der in Schnellzügen reist, Bienen und Fliegen beobachtet, in Gewittern steht - er hat einen Nerv für das Wesen jeder Liebe: das Wunderbare. Das freilich etwas ist, das wir ewig versäumen; etwas, das wir fortwährend verletzten.

»Einmal einfach« heißt der neue Band Krügers. Mit diesen Worten bittet man an den Schaltern des Lebens um ein Ticket ohne Rückfahrkarte, ohne Komfort, ohne Reservierung, ohne Vergünstigung, ohne sonstige Zuschläge. Umwege aber und Umstiege sind gestattet. »Du hast es nicht eilig.« Der Dichter gestattet der laut tickenden Leistungszeit nicht, der reizend uhrenfreien Schwellen-, Übergangs- und Bedenkzeit den Etat zu kürzen. Die Gedichte feiern, dass unsere angemaßte und eingebildete Unaufhaltsamkeit meist nur beim Zaudern und Zögern Charme und Charakter hat.

So folgt das Vers-Werk einem doppelten Auftrag: Es will dem Leben eine Helligkeit so zusprechen, dass wir meinen könnten, es gebe diese wirklich, und es will eine Verfinsterung so aussprechen, dass wir meinen könnten, es gäbe die nicht wirklich. Die Gedichte besitzen eine leidenschaftliche Entzündbarkeit für jeden Widerspruch, der die Welt verbraucht - und erhält. Es geht um die alte Kunst, »Widersprüche auszuhalten,/ um das Unverständliche der Schönheit/ zu erfahren«.

Was bei Krüger durch die Zeiten schimmert, ist ein Existenzrätsel, das inzwischen nur eines fürchtet: vom Menschen gelöst zu werden. Auch wir selber sollten uns öfter daran freuen, Verrätselte zu bleiben. »Die Lippen aufeinanderpressen,/ damit die Wahrheit sich schwertut«. Der Dichter hält inne, nichts fest. Durchblick und Wissen sind ihm nicht Protz, sondern ein Problem - sie machen ihn vorsichtig, nicht vorschnell. Menschwerdung ist hier eine große, schwierige Idee: so bleiben zu dürfen, wie man ganz von selbst wäre - ohne jenes Drängen also, dem man ständig ausgesetzt ist. Vergeblicher Traum.

Aber wenigstens Zuspruch ist möglich: sich zu mäßigen - im Überschusswillen nach noch mehr Besitz. Sei es Besitz an Illusion, die Welt sei beherrschbar; sei es Besitz an Bitterkeit, die Welt zu missachten. Die Welt vor allem des Westens: »Das Leid wohnt gut in festen Häusern.« Krüger ist Mitte. Nicht als Punkt, wo sich alles aufhebt, sondern als Punkt, wo du von jeder Seite etwas anrücken siehst, das recht hat. Und Trost nur bedingt mit sich führt.

Bedichtet werden das Notizbuch und Glühwürmchen, das Böse und der Süden. Nach einem Wahlsonntag werden Plakate weggeräumt, »um Platz zu machen für den freien Blick/ ins dunkle Land«. Wir erleben den Dichter als Philosophen, der das Berlin seiner Kindheit durchstreift, immer wieder Schnee besingt, sich unter einen Apfelbaum setzt, Hotelzimmern Poesie abgewinnt und am Tag der Deutschen Einheit in Córdoba in einem Café sitzt - wo sich das Leben verlor, »doch so langsam,/ daß Hoffnung aufkam, es könnte sich/ eine Zukunft vorstellen vor dem Tod«. Krügers Ton ist der des umsichtigen Skeptikers, der weiß: In jeder Erklärung der Welt, in jeder!, bereitet sich eine Predigerschaft vor - die aber umso enttäuschender ist, je wahrer sie sein will. »Halte dich an die Steine,/ wenn dir nach Reden zumute ist«.

Der Autor weiß doch, dass von den Wörtern, die aufgerufen sind, die Welt zu verdeutlichen, immer das schwächere Wort sich hervortut und loslegt. Wir sind befestigt rundum von eifrigen falschen Begriffen. Also wählt Krüger andere Worte. Und bei allem, was sein Bleistift auf Papier bringt, bleibt ein sehr großer Rest, der »macht sich auf/ ins Einfache, das unabhängig/ sein will von aller Beschreibung«.

Gedichtbände sind seltsame Wesen, sind Überlebenskünstler einer Bücherindustrie, die uns fortlaufend Menge lehrt. In jeder Buchhandlung erzählen die Regale für Lyrik eine Geschichte von Einsamkeit. Neigt unsere Zeit insgesamt zu Verknappung, zu Verkürzung, zu raschem Atem, so tendiert sie doch keineswegs zu Verdichtung, und der König des zeitgemäß Fragmentarischen, das Gedicht, ist ein Verstoßener geworden. Es gibt einen Gedanken des Hanser-Autors Botho Strauß, der auch die Gedichte des einstigen Hanser-Verlegers Krüger trifft: Sprache sei gleichsam nur das Kontrastmittel, das durch das Unaussprechliche fließe, »um die Geäder der Stummheit darzustellen«.

»Einmal einfach«, ja - aber es gibt in diesen Versen nicht den landläufigen Überschwang, der die Welt einfach macht - indem er sie in jene Ordnung presst, die nur der Größe des eigenen Denkvermögens entspricht. Diesem Dichter öffnen sich zu jeder Gelegenheit flimmernde Schattenreiche des Ungefähren, einer heilsamen wie zugleich aufstörenden Ernüchterung. »Dazwischen hockt das Unglück mit den tausend Augen,/ die alles sehn, auch das, was es nicht gibt/ und niemals geben wird.«

Alles Erfahrene wird mit diesen betörenden Gedichten wieder einschmelzbar - zu Sehnsucht. Alles Ausgesprochene wird wieder einschweigbar - zu zweifelfrohem Denken. Das Elektrisierende: Unsicherheit und Gewissheit berühren sich mit ihren offenen Enden.

Michael Krüger. Einmal einfach. Gedichte. Suhrkamp, 136 S., geb., 20 €.

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